Plakatsujet C: Krystian Bienik
WIEN / Theater Akzent: Ein Uraufführungsprojekt NEUE OPER WIEN mit den Vereinigten Bühnen Bozen: „TOTEIS“
Die Sache mit dem Heldentum
15.9. 2020 – Karl Masek
Am 7. März stoppte das Virus die für den 13. März 2020 geplante Uraufführung in Bozen. Die Probenarbeiten waren bis zur Klavierhauptprobe gediehen (von dort stammen auch die Fotos). Dann war schlagartig Schluss.
Der Pandemie geschuldet ist auch die später reduzierte Orchesterfassung des Auftragswerkes der Stiftung Haydn von Bozen und Trient. Also fand die Uraufführung dieser Version nun in Wien statt. Die Bozener Aufführungen sollen im März 2021 nachgeholt werden.
Die Südtirolerin, in Brixen lebende, Komponistin Manuela Kerer und der Nordtiroler Librettist Manfred Plattner stellten das Leben der Südtirolerin Viktoria Savs (1899-1979) in den Mittelpunkt ihrer Oper „Toteis“.
Der Begriff „Toteis“ steht für „…vom Gletscher abgetrenntes bewegungslos gewordenes Eis. Durch rasches Abtauen und Rückzug des Eises kann eine Gletscherzunge völlig zerfallen. Schmelzwasser des ‚lebenden‘ Gletschers überdeckt das Toteis mit Schotter. Das Toteis ist damit vor dem Abschmelzen geschützt und kann oft erst nach langer Zeit schmelzen…“
In Kerers Komposition steht der Ausdruck „Toteis“ als Metapher für Viktoria Savs amputiertes Bein (im Ersten Weltkrieg, 1917, in den Dolomiten).
Wer war nun diese Viktoria Savs? Ab dem Jahr 1915 eine Kriegsfreiwillige, die patriotischer, kämpferischer, „heldischer“,… sein wollte als all die Männer um sie herum. Es gelingt ihr, durch betont burschikose Erscheinung und militaristisches Auftreten, eine Genehmigung zu erlangen, mit der Waffe in der Hand dienen zu dürfen. Ihr Vater, Peter, vom Kriegseinsatz in Galizien, kriegsversehrt, steigt nach langwierigem Genesungsprozess wieder ins Kriegsgeschehen in den Dolomiten ein.
In den 30er Jahren wird Savs von den Nazis für ihre Propagandazwecke als besondere Heldin vereinnahmt (was ihr, die inzwischen der NSDAP beigetreten ist und sich 1938 in Salzburg niedergelassen hat, sehr zupass kam). Auch nach dem II. Weltkrieg nahm sie häufig an Veteranentreffen teil – wobei bis an ihr Lebensende (mit forcierter Legendenbildung) unklar blieb, wie diese Kriegsverwundung zustande kam: durch einen Felssturz, eine verirrte Kugel aus den eigenen Reihen, oder schoss sie sich etwa gar selbst ins Bein?
Die ersten beiden Akte spielen 1967. Man versucht, bei einem Veteranentreffen die Schlacht von 1917 nachzuspielen, wobei die Hauptrolle, sehr zum Missfallen der alten Heldin, von der Wirtin Karola dargestellt wird. Das „Spiel“ wird von Alkoholexzessen, brutalen Männlichkeitsritualen und der lesbischen Liebesbeziehung zu „Lotti“, die von Viktoria damals adoptiert wurde, geprägt. Der „Soldat“ Hansl, der nicht in dieses Konzept von Männlichkeit und Stärke passt, wird grausam misshandelt…
Rückblende im 3. Akt, 1917. Der damalige Schuster Peter, seine Tochter, Vikerl (Die alternde Kriegsheldin „begegnet“ ihrem früheren Ich: Vikerl, Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen). Und, wörtlich in der Inhaltsangabe: „Viktoria weiß die Wahrheit nicht mehr… Sie bleibt verborgen, so wie der Neuschnee alles zudeckt…“ Dann der Epilog. „Heute“ (1967, Herz-Jesu-Sonntag in den Dolomiten), und zugleich „Ewiges Gestern“. Zurück bleiben Viktoria und „Hansl. Vereint im Anderssein. „Wie Toteis, abgetrennt vom Ganzen“…
Ewiggestriges auch nach Savs‘ Tod: Sie wird Anfang 1980 mit allen militärischen Ehren in Salzburg beigesetzt.
Alexander Kaimbacher, Wiener Kammerchor. Fotos: C: Alessia Santambrogio
Die erschreckende Haltbarkeit von ideologischen Verkrustungen, die damit einhergehende Verführbarkeit der Menschen, und dass Geschichte „in Wellen passiert“, haben Manuela Kerer dazu bewogen, sich mit dem „Menschen und Mythos“ zu befassen. Wo liegt die Grenze zwischen Heldentum und Straftat? Und, ähnlich wie Elias Canetti in „Masse und Macht“: Warum folgen Menschen oft blind einer Ideologie und werden so Teil einer Masse? Mit differenziertem Blick und der Vermeidung eines Schwarz-Weiß-Denkens: Veronika Savs hat viele Fehler, sie ist aber nicht das personifizierte Böse, wie man es gern hätte-denn man würde ja gerne sagen, die ist schlecht oder die ist gut…aber wir Menschen funktionieren nicht wie Weiß und Schwarz…“, so Manuela Kerer.
Daraus wird ein 90-Minuten-Gesamtkunstwerk, das einen schon verstört zurücklassen kann. Regisseurin Mirella Weingarten (in Personalunion als Bühnenbildnerin) wuchtet eine apokalyptisch wirkende Toteis-Gletscher-„Mondlandschaft“ auf die Bühne, in der sich die Protagonisten und die Veteranen (von atemberaubender Eindringlichkeit: der Wiener Kammerchor, perfekt einstudiert von Bernhard Jaretz) mit letzter Kraft Meter für Meter weiter-und emporhanteln. Blutverschmiert sind die Eis- und Felsformationen. Zeitlupenwirkungen und Schwarz-Weiß-Grau-Einstellungen wie in alten Stummfilmen fixieren den Blick von der ersten bis zur letzten Sekunde. Auf gewohnt hohem Niveau Kostüme (Julia Müer), Lichtdesign (Norbert Chmel) und Klangregie (Christina Bauer). Unverzichtbar die musikalische Studienleitung durch Anna Sushon.
Musik wie aus der Stratosphäre, weit weg von Erdhaftem. Eisigkalt, zum Erfrieren. Schaben, Kratzen. Wer Gletschertouren gemacht hat, weiß, wie das klingt, wenn die Steigeisen bei jedem Schritt kratzen und wie sich das Gletschereis mit ganz weltfernen Geräuschen bemerkbar macht! Die Tonhöhen-Bandbreite reicht von tiefsten Tuba-Grenztönen bis zum gleißenden Flageolett der Streicher, am Rande der Spielbarkeit. Schmerzhafte, gleichsam stöhnende Glissandi und Ostinati. Dynamik von einer fast-Unhörbarkeit bis zu Clustern (man traut sich das Wort in Zeiten wie diesen fast nicht mehr zu verwenden! ), die unter die Haut gehen und in die Magengrube fahren. Blasgeräusche, als würde jemand selbiges mit Grashalmen erzeugen. Tonale Inseln, wenn zwei Musikstücke zitiert werden. Eines ist das Lied „Sö al’alt sön munt“ von dem ladinischen Komponisten Jepele Frontull (1864-1930), dem Urgroßvater der Komponistin. Das Kinderlied Maikäfer, flieg,/ Der Vater ist im Krieg/… Wenn von Einsamkeit, vom Anderssein, vom Neuschnee, der alles zudeckt, die Rede ist, gibt es immer wieder für Momente wundersame, berührende Akkordfolgen, wie sie beinahe ein Richard Strauss erdacht haben könnte.
Isabel Seebacher, Verena Guntz, Bernhard Landauer. Fotos: Alessia Santambrogio
Dies alles bringt ein ganz traditionell zusammengesetztes Orchester, angereichert durch mannigfaltiges Schlagzeug und E-Zither/“Raffele“ (auch Scherr- oder Kratzzither genannt) hervor. Fabelhaft in der konzentrierten Verdichtung des Klanggeschehens: das amadeusensemble-wien. Und Walter Kobéra am Pult beweist ein ums andere Mal seinen Ausnahmerang als Dirigent von neuen und neuesten Opern mit dichter Gestaltungskraft..
Im Absatz über die Sängerbesetzung gestatte ich mir eine kleine Prise Patriotismus. Ein ÖsterreicherInnen-Quintett! Und was für eins! Da gehen alle an mentale Grenzen, füllen ihre Rollen bis zur Selbst-Entäußerung aus. Isabel Seebacher wartete als exzellente „Viktoria“ mit bühnenbeherrschender Präsenz, mit eiskalter Hitze und stählerner Kraft in der Hochdramatik auf. Rein sängerisch ist die Rolle mit wahnwitzigen Intervallsprüngen bis zum Äußersten fordernd, dagegen scheint selbst eine „Elektra“ oder „Färberin“ ein Spaziergang zu sein. Verena Gunz in der Doppelrolle als Wirtin Karola und dem „Vikerl“, dem anderen Ich der Protagonistin, changierte großartig zwischen den Geschlechtern. Dazu 3 Urgesteine und mittlerweile echte Großmeister in Sachen zeitgenössischer Oper: Bernhard Landauer mit hochdramatischen Countertenor-Tönen, wie man sie bisher kaum noch so zu hören glaubte, als sadistisch gequälter „Hansl“, der sich auch der Avancen des „Heldenmädels“ erwehren muss. Alexander Kaimbacher, der sich mit irrer darstellerischer Verve und stimmlichem „Koste-es-was-es-wolle“- Grenzgängertum in seine Rollen als Festredner „Luis“ mit Hang zum Komasaufen und in die vielschichtige Vaterrolle des Kriegsversehrten „Peter S.“ stürzte. Klemens Sander holte mit all seiner Erfahrung das Möglichste aus der vergleichsweise blassesten Rolle, dem Feldmarschall Eugen, heraus. Und Christian Balzamà zeigte in diesem Rahmen geradezu gespenstische Schuhplattler-Soli.
Ein Hardcore-Abend endete mit beklommener Stille. Erst nach und nach wurde applaudiert. Zu sehr schien das Publikum (der überwiegende Teil hielt sich an die Empfehlung, den Mund-Nasen-Schutz auch während der Aufführung anzubehalten) noch mitgenommen vom eben Gesehenen und Gehörten. Ehrlich gesagt: Jubel schien nach diesem Abend auch eher unangebracht, fast störend zu sein.
Nur ein Wort noch, wenigstens schriftlich: Bravi!
Karl Masek