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WIEN/ Tanzquartier Wien: Tiran Willemse mit „Untitled (Nostalgia, Act 3)“

02.11.2025 | Ballett/Performance

WIEN/ Tanzquartier Wien: Tiran Willemse mit „Untitled (Nostalgia, Act 3)“

Der in Südafrika geborene Tänzer und Choreograf Tiran Willemse setzt mit seinem im Dezember 2023 in der Züricher Gessnerallee uraufgeführten Stück „Untitled (Nostalgia, Act 3)“ die Auseinandersetzung mit seiner von verschiedenen Kulturen und künstlerischen Traditionen beeinflussten multiplen Identität fort. „Blackmilk“, zuletzt beim diesjährigen ImPulsTanz-Festival in Wien zu sehen gewesen, stellt Idole und Ideale von Männlichkeit auf den Prüfstand. Hier nun zelebriert er solistisch eine Austreibung.

Wuchtige Orchesterklänge aus dem immer noch gefeierten Ballett-Klassiker „Giselle“ lässt der Musiker und Sound-Designer Tobias Koch auf die Zuschauenden los, bevor Tiran Willemse die Bühne betritt, als käme er gerade von der Straße. Dann wird es romantisch. Mit einer schier endlosen Folge von Arabesken mäandert er sich in Richtung Tribüne und lässt uns somit in den Spiegel schauen. Wir können erkennen: Die Pflege des reichen europäischen Erbes, eine aus diesem gewachsene Gegenwarts-Kultur und die daraus resultierende Einengung unseres Gesichtsfeldes.

© ben zurbriggen fotografie ben zurbriggen.ch

Tiran Willemse: „Untitled (Nostalgia, Act 3)“ © BEN ZURBRIGGEN FOTOGRAFIE

Irgendwann hebt das Spielbein nicht mehr ab. Ganz allmählich, und von häufigen Rückfällen begleitet, wird aus dem himmelwärts Strebenden ein zunehmend Erdgebundener. Der tanzt mit unsichtbarem Partner auch einen langsamen Walzer. Mit dieser Geste inkludiert Willemse die Pop-Kultur in seine Betrachtungen.

„Giselle“, das 1841 in Paris uraufgeführte romantische Ballett zu Musik von Adolphe Adam, wird zum Ausgangspunkt für das bildstarke Solo einer vielschichtigen Künstler-Persönlichkeit. Willemse übersetzt das Sujet des Ballett-Klassikers in eine sehr persönliche und gleichzeitig eine Geschichte von globalen Ausmaßen. Seine kulturellen und künstlerischen Prägungen, er lebt inzwischen in Zürich, studierte am P.A.R.T.S. in Brüssel und an der Hochschule der Künste Bern, die Entwurzelung und gleichzeitig die tiefe Verankerung dieser Wurzeln in ihm, deren innerlich lautstark behauptetes Recht auf Leben und die scheinbare Unvereinbarkeit so verschiedener Einflüsse be- und verarbeitet er in seinen Stücken. So auch in diesem.

Die das Stück durchziehende (und Titel gebende) Melancholie, wurzelnd in dem Verrat an seiner eigenen Kultur und dem daraus wachsenden Schuldgefühl, mündet in einen tiefen Ekel vor sich selbst und schließlich in einen wütenden Exorzismus. Der Betrug des als Bauer verkleideten Edelmannes an der einfachen Bäuerin Giselle treibt diese in den Wahnsinn und schließlich in den Tod. Im Ballett wird sie eine der Wilis, eine von mehreren Geistern junger Frauen, die Männer in den Tod tanzen lassen.

Tiran Willemse macht diese Arbeit, einfach nur aus Überlebenswille, zu einer homöopathischen. Er versucht Symptome zu heilen mit etwas, das gleiche Symptome auslöst. Er tanzt den Wahnsinn. Und damit gegen diesen an. Er tanzt das Aufbäumen der Agonie, um dem Tod zu entrinnen.

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Tiran Willemse © Ianne Kenfack

Die Toten Geister der Wilis, die des Nachts ihren Gräbern entsteigen, um zu tanzen, schüttet Tiran Willemse auf die Bühne. „Afrikanische Tänze, Kuduro aus Angola, Alanta aus Nigeria und andere Körpercodes“ (so erläutert der Programmzettel) drängen aus tiefstem Innern durch eine mächtige Schicht aus europäischer „Hochkultur“ in das Dämmerlicht der leeren Fläche, werden zu unaufhaltsamen, geradezu gewalttätigen Gegenspielern des gedrillten und in die regulativen Korsette des klassischen Balletts gepressten, disziplinierten Körpers.

Geschlechtergrenzen löst Tiran Willlemse folgerichtig auf. Neben dem Heteronormativen, das Willemse in diesem Stück ganz unaufdringlich und selbstverständlich ad absurdum führt, greift er das eurozentristische kulturell-ideologische Selbstbild der von wirkmächtigen Traditionen dominierten westlichen Kunstwelt frontal an. Aus seiner Sehnsucht wird Widerstand. Er entlarvt Klischees, Erwartungen und Zuschreibungen. Mit irrem Lachen zeigt er auf uns: Wie dumm ihr seid.

Sein Tanz bewegt sich zwischen (und uns mit) Zärtlichkeit und aggressiver Selbstoffenbarung, zwischen allen Regeln gehorchender Perfektion und Präzision und dann wieder ungeschönter Emotionalität, zwischen realitätsfernen Idealen und dem rückhaltlosen Ausleben der inneren Wahrheit, zwischen kühler Mechanik und entfesselter Seele, zwischen Bild und Sein. Es geht ihm um nichts weniger als um seine Existenz als Künstler und als Mensch.

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Tiran Willemse © Ianne Kenfack

Willemse bedient elende, herabwürdigende, rassistische Stereotype, die bis in die späten 70er hinein in US-amerikanischen Fernsehshows von schwarz gefärbten Weißen produziert, gepflegt und verbreitet wurden. Er streckt die Zunge heraus, schüttelt Gesicht, Kopf und Körper bis in den Exzess, treibt sich tanzend, springend und laufend in den Wahnsinn und muss mit den immer wieder durchbrechenden klassischen Moves verhandeln. Es will sich kein Gleichgewicht einstellen zwischen Afrika und Europa, keine Koexistenz.

Er bohrt mit dem Dolch unseres narkotisierten schlechten Gewissens in die Verliese unserer Seele, dort hinein, wo Scham und Schuldgefühle auf ihren Auftritt warten. Und den haben sie hier. Willemse zertrümmert vor unseren Augen fundamentale Gewissheiten. Die nämlich vom alles überragenden Wert unserer Kultur und ihrer Geschichte. Und die ganz tief sitzende vom exotisch-interessanten, amüsanten, aber verstohlen belächelten Un- (terhaltungs-) Wert der uralten schwarzafrikanischen Traditionen. Klar, so schnell, wie der Alkohol es schafft, sie zu töten …

Das ist der Zynismus unseres europäischen Selbstverständnisses: Moralisch-ethisch halten wir segnend die Hände über den Rest der Welt und finanzieren gleichzeitig unsere wohlstandsgesättigte Hochkultur auf Kosten des globalen Südens. Und ganz nebenbei: Gut zu beobachten (oder doch nicht?) ist der individuelle und kollektive tiefenpsychologische Sanierungseffekt, den die Aufrechterhaltung dieser Gefälle garantiert.

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Tiran Willemse: „Untitled (Nostalgia, Act 3)“ © ELLEN MATHYS

 

Das Team aus Musiker Tobias Koch, Dramaturg Andros Zins-Browne, Laurent Chétouane als choreografischem Berater und dem Lichtdesigner Fudetani Ryoya leistete gute Arbeit. Den besten Job aber macht Tiran Willemse. Er ist ein herausragender Tänzer und Performer mit einer ungeheuren Bandbreite an Bewegungsmaterial und darstellerischen Fähigkeiten. Er findet einen direkten Zugang zu angestrengt vermiedenen Gefühlen und rüttelt gleichzeitig an unserer Menschlichkeit. Er reißt damit innere Gräben auf, die schmerzen. Sehr bewegend.

Die finale Drastik ist schwer zu ertragen. Erst schwingt er nach Art der Wilden Penis und Testikel dicht vor dem Publikum, haut diesem damit den unbändigen Lebenswillen, die noch schlummernde Kraft und die kulturelle Potenz eines ganzen Kontinents um die Ohren, um sich sehr bald danach in perfekt klassischer, vollendeter Grazie, im Habitus erinnernd an Edgar Degas‘ „Drei Ballett-Tänzerinnen“, vom jubelnden Publikum zu verabschieden. „Untitled (Nostalgia, Act 3)“ ist eine Austreibung. Und mit dem Vorbild Tiran Willemse ein Vorschlag für eine weitere. Dann aber sind wir am Zug.

Tiran Willemse mit „Untitled (Nostalgia, Act 3)“ am 31.10.2025 im Tanzquartier Wien.

Rando Hannemann

 

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