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WIEN/ Tanzquartier Wien: Jeremy Nedd & Impilo Mapantsula: „blue nile to the galaxy around olodumare“

18.10.2025 | Ballett/Performance

WIEN/ Tanzquartier Wien: Jeremy Nedd & Impilo Mapantsula: „blue nile to the galaxy around olodumare“

 Jazz-Musik vom Feinsten und urbaner südafrikanischer Tanz begegnen sich in dieser Arbeit, die ihre Österreich-Premiere Ende Juni 2024 im Festspielhaus St. Pölten feierte. Der in Brooklyn, New York, geborene und derzeit in Basel lebende Tänzer und Choreograf Jeremy Nedd führt in „blue nile to the galaxy around olodumare“ zwei in Protest-Bewegungen wurzelnde künstlerische Artikulationsweisen zu einem mitreißenden Musik-Tanz-Ereignis zusammen.

 Die ersten zehn Minuten wird das Publikum entführt in die musikalische Welt, die dieses Stück auch fürderhin prägen wird. In völliger Dunkelheit saugt von einer Band gespielter, harmonisch instrumentierter Pop-Jazz die ZuhörerInnen in sich auf. Meditation, körperlich vollkommen entspannt. Die Sinne jedoch sind maximal geschärft. Das dann einsetzende Licht prognostiziert mit stark vernebelter Bühne die bevorstehende Arbeit der Augen, die den Ohren ihre temporäre Funktion als Haupt-Sinnesorgan wieder entreißen müssen.

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 Jeremy Nedd: „blue nile …“ (c) Bollwein

 Was wegen des Qualitäts-Niveaus und der emotionalen Wirkung der gewählten Musik eine Herausforderung darstellt. Der Jazz der amerikanischen Pianistin, Organistin und Harfenistin Alice Coltrane (1937-2007) und des südafrikanischen Komponisten, Pianisten, Gitarristen, Saxophonisten und Sängers Bheki Mseleku (1955-2008) ist Tonkunst allerersten Ranges. Über letzteren heißt es: „… eine packende Mischung aus vitaler, allen Klischees entkernter Township-Music und modalem Jazz“.

 Der Pantsula (zu deutsch: „Laufe wie eine Ente“), ein in den südafrikanischen Townships als subkulturelle Form des schwarzen Protestes gegen die Apartheid entstandener urbaner Tanzstil, verbindet Elemente des Stepptanz, Jive und afrikanischer Stammestänze zu virtuoser Beinarbeit mit synchronen und individuellen, meist improvisierten tänzerischen Aktionen und dem Einsatz von Sprache, Stimme und Gesang. Jeremy Nedd arbeitete bereits das dritte Mal mit Impilo Mapantsula zusammen. Dieses Netzwerk versteht sich als Organisation zur Pflege und Förderung der Kultur des Pantsula. Weltweit werden professionelle TänzerInnen, Ausbildung und Kooperationen unterstützt.

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 Jeremy Nedd: „blue nile …“ (c) Bollwein

 Vier Männer und eine Frau betreten nach und nach die neblige Bühne. Sie erkämpfen sich hier, erst allein, dann als Gruppe, physisch ihre Sichtbarkeit. Metapher für ihre durch weltweite und Jahrhunderte lange Unterdrückung und weiß dominierte Geschichtsschreibung marginalisierte Kultur. Sie tanzen in wechselnden Konstellationen und spacig-silbrigen Kostümen von Tara Mabiala.

 Die weiträumige, jedoch nicht durchgängige Unabhängigkeit des Tanzes von der Musik verleiht dem Tanz ein eigenes Gewicht und betont dessen Lebendigkeit. Musik und Tanz entwickeln eigene, variable Rhythmen und Dynamiken. Beiden gemeinsam ist die Kommunikation der jeweils Beteiligten und die den Einzelnen gewährten Freiheiten für Spontaneität.

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 Jeremy Nedd: „blue nile …“ (c) Bollwein

 Sich gegenseitig inspirierend und anfeuernd, auch ein die Pantsula-Kultur kennzeichnendes Dance-Battle stellen sie nach, tanzen sie, den Raum und das Kollektiv gestaltend, mit weichen und kraftstrotzenden Moves. Die dadurch entstehende Vitalität des Tanzes ist ansteckend. Sie bewegen sich zwischen improvisatorisch genutzter Freiheit in Raum und individuellem Ausdruck und kollektiven, choreografischen und dramaturgischen Rahmenbedingungen. Sie untersuchen somit Möglichkeiten des Zusammenlebens, indem sie auf elementare menschliche Bedürfnisse und deren Respektierung weisen und also über Gesellschaftsmodelle für eine friedliche Zukunft spekulieren.

 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden in einer gesprochenen Textpassage zu einer wortspielerischen, poetischen Allegorie auf den Fluss der Zeit und die Notwendigkeit, die Vergangenheit zu kennen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft gestalten zu können. In der von der Apartheid (1948-1994), der Politik der Rassentrennung und der Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung also, und ihren Nachwehen geprägten Kultur Südafrikas durchwirkt die Macht der Geschichte schreibenden Weißen nach wie vor die Gesellschaft.

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 Jeremy Nedd: „blue nile …“ (c) Bollwein

 Doch nicht nur dort. Als Reaktion auf die vielen dunklen Erfahrungen der afrikanischen Diaspora

entstand 1994 der Afrofuturismus, eine explizit nicht-westliche, wissenschaftlich-künstlerische und kulturell-sprituelle Bewegung zur Neubewertung historischer Ereignisse und der daraus abgeleiteten Konstruktion möglicher Zukünfte. Diesem Afrofuturismus fühlt sich Jeremy Nedd in seiner US-amerikanisch-europäischen Lebenswelt besonders verbunden.

 Dem lokalen Phänomen Pantsula stellt er das globale des Afrofuturismus und die galaktische Musik der beiden schwarzen Jazz-MusikerInnen zu Seite. Der Wille zur Selbstbehauptung und -bestimmung und von tiefer Spiritualität durchdrungene Schöpferkraft und -freude verschmelzen in „blue nile to the galaxy around olodumare“ zu einem am Ende ungemein kraftvollen, betörenden, poetisch-politischen Statement.

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Jeremy Nedd: „blue nile …“ (c) Jean-Marc Virgin

 Die Leichtigkeit der Präsentation und die Bescheidenheit der fünf TänzerInnen kann über die mental-physische Herausforderung und den gesellschaftspolitischen Hintergrund ihres Tanzes nicht hinweg täuschen. Die durch ihren Widerstand strahlende Ursprünglichkeit und Natürlichkeit scheint zu rufen: Es ist uns trotz allen Vergnügens bitterernst. Noch immer. Kämpferisch recken sie ihre Fäuste in den Himmel bei der Verabschiedung vom jubelnden Publikum.

 Jeremy Nedd & Impilo Mapantsula mit „blue nile to the galaxy around olodumare“ am 16.10.2025 im Tanzquartier Wien.

 Rando Hannemann

 

 

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