WIEN/ Tanzquartier Wien: „Habitat / Halle E“ (pandemic version) von Doris Uhlich
Unter Einhaltung eines vorbildlichen Covid-19-Sicherheitskonzeptes startete das Tanzquartier Wien mit Doris Uhlichs „Habitat / Halle E“ in seiner „pandemic version“ in die neue Saison. Was vor knapp einem Jahr noch als lustvolle Massenveranstaltung mit sich mischenden 120 nackten PerformerInnen und 600 bekleideten Zuschauenden in der Halle E des Wiener Museumsquartieres in seiner „Normal-Fassung“ umjubelte Premiere feierte, wurde nun zu einer in mehrfacher Hinsicht entrückten Bühnen-Performance.
Geblendet werden die sich setzenden ZuschauerInnen auf der großen Tribüne. Es nervt ein wenig. Aber man lernt damit umzugehen. Wie mit so vielen Blendungen. Endlich Licht aus. Ein Rollstuhlfahrer, bekleidet nur mit einer Maske, rollt auf die riesige, leere Bühne, fährt an die linke Wand, stößt sich von ihr ab. Mehrmals. Dann rechts das Selbe. Unüberwindliche Eingrenzungen. Hoch oben auf dem Balkon hüpft eine nackte Frau. Die Schwerkraft hält sie, fest. Ein Mann hängt sich an eine Traverse. Vergeblich sein Versuch, die Barrieren zu überwinden. Eine Frau auf einer Box fächelt mit den Armen. Groß ist der Abstand zwischen ihnen. Und es ist still.
Doris Uhlich: Habitat pandemic version 1_c Alexi Pelekanos
Erst nach dem Einsetzen des brummend-metallischen Sounds betreten die anderen der 40 PerformerInnen die Bühne. Alle nackt, Masken tragend, zwei RollstuhlfahrerInnen, Menschen verschiedenen Alters, unterschiedlicher Hautfarben und Staturen, diverser Professionen. Sie stellen einen Wald aus mahnenden Statuen in den Raum, den Rücken zum Publikum. Auf Abstand. Bedrohlich wird der Sound, sie setzen und legen sich, die Beats wummern, eine verzerrte Stimme spricht vom „Watching me …“. Der DJ und Sounddesigner Boris Kopeinig setzt seine Klänge sparsam und doch machtvoll ein. Verglichen mit der Ur-Version des „Habitat“ wird aus dort treibendem, tanzbarem Techno hier eine düster-melancholische, die Kraft des Rhythmus brechende Klangkulisse, die viel Raum lässt für Stille. Auferlegtes Innehalten. In der Halle wie im Leben.
Die Menschen schauen uns an. Sie zittern, schütteln und wackeln bald ihre Körper. Es wirkt wie Widerstand, nicht wie die überbordende Freude am Sein in der Ur-Version. Sie mäandern im Gänse- wie im Protest-Marsch durch die leeren Reihen des unteren Tribünenblockes. Der Sound verebbt, Getrappel nur noch dringt an die Ohren des hoch oben sitzenden Publikums. Das Lichtdesign von Sergio Pessanha lässt sie kurz wie Schatten ihrer selbst vor uns defilieren. In Licht und Stille schauen sie uns an. Lange.
Doris Uhlich: Habitat pandemic version 5_c Alexi Pelekanos
Während unten eine Tänzerin, allein nun, auf allen Vieren verzweifelt gegen das Erdrückt-Werden kämpft, erreicht das Stück mit einem „Schwebebalken-Solo“ auf der die Blöcke trennenden Tribünen-Balustrade einen Höhepunkt. Und seine Schlüsselszene. Dieser sportive Tanz an der Grenze zwischen Publikum und dem von den PerformerInnen genutzten Raum wird zur sprichwörtlichen, so vielen Aspekten der Corona-Pandemie innewohnenden Gratwanderung. Mit der kraft- und würdevollen Ästhetik der Selbstbehauptung berührt dieser Balanceakt.
Die Anderen erscheinen während dessen mit transparenten Plastik-Ganzkörper-Overalls, die, einmal raschelnd angelegt, körperliche Nähe erlauben. Zu zweit und in der Gruppe. Wie als Reminiszenz an das Corona-freie „Habitat“ legen sie sich dicht zusammen in den Lichtkreis. Und die Schutzhüllen glänzen. Doch der Haufen aus Körpern kriecht bald auseinander. Wie Würmer am Boden winden sich die eben noch dicht Gedrängten. Wie eine Behinderung ist ihre Schutzhaut. Sie erklettern die Stuhlreihen des unteren, nicht besetzten Blockes, einer überwindet sogar die Grenze. Sie blicken lang ins Publikum durch ihre beschlagenen Plastik-Häute. Und sie machen die Köpfe frei.
Doris Uhlich: Habitat pandemic version 8_c Alexi Pelekanos
Aus der Fiktion in die Wirklichkeit, aus der Freude am Leben in den Kampf ums Überleben, aus dem Rausch in die Ernüchterung, aus der Freiheit in die Ordnung. Doris Uhlich transzendiert mit diesem „Habitat“ das „social distancing“. Sie macht mit der physischen die psychische Isolation der Menschen sicht- und fühlbar. Die Corona-Krise verstärkt und bringt mit Gewalt ans Tageslicht und in die Wahrnehmung der Menschen, was schon vor ihr da war, jedoch, für so manche, nicht in dieser Offensichtlichkeit: Vereinzelung, seelische Schutzmechanismen, bidirektionale Ab- und Ausgrenzungen von Gruppen und Individuen und das Ringen um Würde und Selbstbehauptung.Was macht diese erzwungene Isolation mit dem Individuum und mit Gruppen, gleich welcher Bindungsmechanismen sich diese auch bedienen? Rückzug ins Innere, Melancholie, Tristesse, Angst und Depression. Das, wovon der Mensch lebt, seine Autorität, Selbstbestimmung und Sozialisierung, wurde ihm zu mehr oder weniger groß empfundenen Teilen genommen, was ihn in psychische und emotionale Unterernährung führt. Sehnsüchte und Aufbegehren sind eines. Die finale Aufforderung jedoch, die Köpfe freizumachen und somit Räume zu schaffen für Möglichkeiten und Chancen, resultiert aus Uhlichs Vision, mit der Pandemie, nicht gegen sie zu leben und zu arbeiten.
Rando Hannemann
„Habitat / Halle E“ (pandemic version) von Doris Uhlich, am 03. und 04. Oktober 2020 mit 5 Vorstellungen im Tanzquartier Wien.