„The Quiet“ von Jefta van Dinther im Tanzquartier Wien
Rando Hannemann
Was konstituiert uns? Sind wir unsere Erinnerungen? Und was geschieht, wenn wir vergessen? Jefta van Dinther widmet seine jüngste Performance „The Quiet“ solcherlei Fragen. Fünf Frauen performen in einem perfekt abgestimmten Setting aus Bühne, Licht, Kostüm, Sound, Text und Zeit ein düsteres Stück über den Verlust von Erinnerungen. Im erweiterten Sinne. Und er fragt: Was ist Kultur?
Sie sind im Dunkel, und wir im Licht. Weil wir noch wissen. Das Skelett eines Hauses, ein Stahlgerüst nur, steht auf der dunklen Bühne. An den Seiten die fünf Performerinnen Alexandra Campbell, Lisa Drake, Cecilia Roos, Kristine Slettevold und Linda Adami in hellen knielangen Röcken/Hosen, wattierten Westen und Turnschuhen (Bühnenbild und Kostüm: Cristina Nyffeler). Eingespielter Text begleitet ihr tastendes Suchen. „This is where it starts. What is the procedure?“ „Je mehr wir reden, umso realer wird es.“ Das Saallicht verlischt langsam. Sie begegnen sich kurz, scheinen sich auszutauschen, formieren sich hinten zur Gruppe, die zögernd den Vorstoß wagt vors Haus, und hinein. Eine, als sie endlich sitzt auf ihrem Klappstuhl, weint. „Killing me softly!“ erklingt kurz und dumpf. Drei andere tragen draußen miteinander boxend ins außen verlagerte innere Kämpfe aus. Womit jenes Innen und Außen eingeführt wäre, nur eine der vielen mehrdeutigen Polaritäten an diesem Abend.
The Quiet von Jefta van Dinther. Copyright: Ben Mergelsberg
Ohne Eile entwickeln sich die Ereignisse. Eingebettet in einen Soundtrack (David Kier), der, teilweise auch live gesungen, von Ferne klingend, dumpf und kaum kenntlich anklopft ans Bewusstsein. Manchmal aber wird es reiner in Klang und Struktur. Die Bilder reihen sich, voll von Metaphoriken. Die fünf finden sich, im traulichen Miteinander, ein am Kamin, der bald, es kracht der Sound und blitzt die Feuerstelle, mutiert zum Höllenschlund. Aus dem sie Stangen ziehen und Haut für ein Zelt, das, draußen endlich aufgestellt, innen beleuchtet, erst schützender Ort wird für Harmonie, bald jedoch Dämonen zeigt als Schatten an den Wänden. Es wird erzählt vom Leben mit seinen flachen Momenten, als ob es sein Gewürz, seine Klarheit verloren hätte. Und nach der Panik vor dem Zelt, sie regredieren zu sich wie Affen auf dem Boden bewegenden Wesen, „wird der Fluss ruhiger, und ruhiger, und ruhiger …“ Es tröpfelt der Sound. „Wir erzählen Dir ein paar Dinge, und es wird sein, als ob Du sie immer gewusst hast.“
The Quiet von Jefta van Dinther. Copyright: Ben Mergelsberg
Wie in der Schule sitzt eine vor der Vierer-Reihe. Und das Weitergegebene lebt in jeder anders weiter. „Du machst Dir Sorgen um die Nachfolge. Du beobachtest, sitzt still. Aber Du bist nicht ruhig. Und Du gehst und gehst und gehst …“ Seinen Höhepunkt erreicht das Stück, wenn die Frauen aus der Vereinzelung in das Gehen von fünf sich überlappenden Kreisen finden. Zu einfachen, harmonischen, repetitiven Klängen gehen sie und gehen. Es ist ein Pentagramm, das sie kreisen lassen, durch die Wände des Hauses hindurch. Das alles durchdringende und umschließende Symbol für den Menschen und die fünf Elemente. Es ist rauschhaft. Wie in Trance. Langsam zerfällt diese Ordnung im Bild und im Klang. Stehend nun schauen sie auf in ein Licht, breiten die Arme aus, ziehen es zu sich. Diese Anbetung des Mondes, des Symbols des Wechsels und Wandels und des Ja zum Leben, gerät zu einem Akt der Befreiung. Gelöst und ganz geöffnet sich bewegend nehmen sie an, was ist und was kommt. Die Spitze des Pentagramms, der Kopf und der Geist, beginnt im Hause ein Loch zu reißen in den Boden. Die anderen kommen hinzu. Und am Ende stehen sie und blicken ohne Angst, fast neugierig, in das tiefe, stille, schwarze, glänzende Dunkel, das auf sie wartet.
Die fünf Frauen auf der Bühne haben allesamt Bedeutung in van Dinthers Leben. Zwei sind ehemalige Chefinnen, alle Kolleginnen. Daher dieser Cast. Doch ebenso verkörpern sie das weibliche Prinzip des Bewahrenden, des Behütens und Beschützens. Der dieses Prinzip unterlaufende Prozess der geistigen Auflösung und Auslöschung wird musikalisch und tänzerisch mit äußerst reduzierten, jedoch um so wirkungsvolleren Mitteln gestaltet, zwischen mentaler Dumpfheit und Klarheit, von der entwurzelnden Verunsicherung bis in die totale Freiheit.
The Quiet von Jefta van Dinther. Copyright Ben Mergelsberg
Zu „The Quiet“, uraufgeführt am 7. März in Berliner HAU (Hebbel am Ufer), ließ sich der schwedische, in Berlin lebende Choreograf Jefta van Dinther von dem an Alzheimer erkrankten Ingmar Bergman inspirieren, der das vergessene Wort „Raum“ umschrieb mit „das Ding mit Wänden“. Was er gemeinsam mit seinen Performerinnen und seinen langjähigen PartnerInnen für Sound- und Licht-Design, Bühne und Kostüm daraus entwickelte, ist ungemein poetisch, vieldeutig und assoziativ. Die psychologischen, sozialen und gesellschaftlichen Aspekte und Effekte des Verblassens von individuellen wie kollektiven Erinnerungen werden in beeindruckende Bilder übersetzt. Alles hat zwei Seiten. Beruhigung und Verunsicherung, Schutz und Bedrohung, Gut und Böse, Leben und Tod. Haus, Kamin, Zelt, Pentagramm, Abgrund. In jenen lässt er uns blicken, weil die überliefernde Infusion von Erinnerungen unterbrochen, unterbunden wird. Nicht nur durch Alzheimer. Und damit erhält das Stück eine weit über seine vordergründige Thematik hinausreichende, politische Dimension. „Die Welt schlägt so vieles vor.“, sagte Jefta van Dinther im Publikumsgespräch. So auch diese Arbeit. „The Quiet“ ist dicht, aber nicht aufgeregt, es ist melancholisch und berührend, ohne sentimental zu sein, und es ist ruhig. Darin liegt seine ungeheure Kraft.
Rando Hannemann
„The Quiet“ von Jefta van Dinther, am 12. bis 14. Dez. 2019 im Tanzquartier Wien.