WIEN/ Tanzquartier: Doris Uhlich mit „GAP“
„Ich bin unsichtbar.“ „Ich verachtete die, die mich verachteten, mich da unten.“ „Als ich meine Wohnung verlor, verlor ich meine Stimme.“ Die schon mit vielen Preisen geehrte österreichische Choreografin und Tänzerin Doris Uhlich ist bekannt und wird geschätzt dafür, Randgruppen einen Platz im Zentrum frei zu räumen. In der hier uraufgeführten Performance „GAP“ ist es die Obdachlosigkeit, von der Betroffene, selbst künstlerische Laien, berichten.
Inspiration für diese Arbeit war Doris Uhlich ein einwöchiger Vermittlungs-Workshop mit Wohnungslosen und anschließendem Showing im März 2024 im Tanzquartier Wien. Da wurde ihr klar, dass sie mit diesen Menschen und ihrer Situation ein Stück entwickeln will, oder eher noch: muss.
Doris Uhlich GAP (c) Alexi Pelekanos
„Wie du es spürst.“ Diese Worte der Choreografin sind das Rezept für das Entstehen und das Rezipieren dieser eineinhalbstündigen Arbeit. Spüre hinein in dich, PerformerIn, und auch du, ZuschauerIn. Das erzeugt Authentizität und starke Bilder, die wirken. Sechs Menschen, die mit Wohnungslosigkeit konfrontiert waren oder noch sind, lassen blicken in ein Leben abseits der Normalität.
Soll ich hier schlafen oder ist dort vielleicht ein besserer Platz? Anonymität ist mein Schutzwall um meine Verletzlichkeit, meine Scham und meine Minderwertigkeitsgefühle. Es kostet mich Überwindung und viel Mut, mein Gesicht zu zeigen. Ruhig und ruhelos ist mein Leben, innerlich rastlos mit viel äußerlicher Muße. All meinen Besitz habe ich immer bei mir. Denn ich muss mobil sein und bleiben. Alles ist so fragil und instabil. Ich bin sehr einsam. Meine Gefühle interessieren niemanden. Und ist die Romantik des Straßenlebens nicht doch nur eine vermeintliche, eurer Projektion entsprungene?
Doris Uhlich GAP (c) Alexi Pelekanos
Die sechs PerformerInnen agieren mit aufblasbaren Objekten von schulteswien: riesige transparente Würfel, Zylinder, Kegel und Quader. Sie bauen Wälle, Häuser, Halden, Trümmerfelder, sie schleppen sie wie Lasten und wertvolles Gut, nehmen sie in Besitz und lehnen sie ab. Eine Mauer zwischen ihnen und uns durchbrechen sie. Eine Frau stößt die Würfel energisch zur Seite und kommt auf uns zu, erklimmt die Tribüne und reißt somit die Barriere zwischen denen da und uns nieder.
Wo unsere Welt, die der Normal- bzw. Wohl-Situierten, ihre untere Schicht-Grenze hat, beginnt die der „da unten“. Wie die sich fühlen, bringt das Stück einem nahe. Sehr nahe. Wie sie dahin gekommen sind, nicht. Die so genannte „Schuldfrage“ wird nicht gestellt. Wie schmal aber der Grad zur Obdachlosigkeit ist, wird deutlich. Auch, was lange währendes Leben auf der Straße mit dem Einzelnen und der „Gemeinschaft“ der Obdachlosen macht. Eine nachhaltige, lange über das Ende der Obdachlosigkeit hinaus wirkende Abspaltung von der Normalität ist nur ein Aspekt.
Ihr Kampf um die Bewahrung und Behauptung ihrer Würde ist beeindruckend. Die Konkurrenz um Ressourcen erschütternd. Eine eventuell vermutete oder projizierte Solidargemeinschaft der Wohnungslosen existiert nicht. Auch wenn dieses Stück deren Existenz in seltenen Szenen glaubhaft erscheinen lassen könnte. Es sind die gleichartigen Problemlagen, die Gemeinsamkeiten erzeugen.
Doris Uhlich GAP (c) Alexi Pelekanos
Doris Uhlich erschafft poetische, vornehmlich das Emotio adressierende Bilder. Wir fühlen die Wirklichkeit der Wohnungslosen. Boris Kopeinig begleitet die Performenden mit Sound und Musik, gestaltet Stimmungen und ist damit wie immer wertvoller und integraler Bestandteil der Performances von Doris Uhlich.
Die Härte des Lebens auf der Straße schreibt sich nicht nur in die Gesichter und Körper, sie manifestiert sich auch und vor allem in den Psychen der Betroffenen. Deren Traumatisierungen äußern sich zum Beispiel in der Angst des nur als Stimme anwesenden siebenten Performers, er könnte seine „danach“ bezogenen Wohnung, zurückkehrend nach deren Verlassen, nicht mehr betreten. Deswegen bleibt er zu Hause. Immer. Schon seit Langem.
Die schwarze Performerin mit nigerianischen Wurzeln, sie verließ, wie sie berichtet, die Obdachlosenunterkunft, weil diese keinerlei Privatsphäre ermöglichte („Draußen hatte ich Raum für mich selbst.“), bricht sich frei aus ihrer Verschüttung, aus ihrem eingegraben Sein, tanzt zu Techno ihre afrikanischen Moves und berührt mit ihrer Selbstermächtigung.
Doris Uhlich GAP (c) Alexi Pelekanos
Sie eröffnet einen Catwalk, eine Plastikplane umgehängt wie schmückenden Zierrat. Sie holt an den Rand der Gesellschaft und der Wahrnehmung gedrängte Realität in die Sichtbarkeit. Es ist der Gegenentwurf zu den Eitelkeiten einer saturierten, sich selbst feiernden Mehrheit, deren Ignoranz es zulässt, dass das Phänomen Obdachlosigkeit überhaupt existiert. Und sich sogar ausbreitet. Durch mit „Betongold“ maximierte Eigenkapitalrentabilität. Das Grundgesetz des Kapitalismus zeitigt Wirkungen, denen Doris Uhlich hier sechs Gesichter gibt.
Lebendigkeit und Lebenswillen offenbaren sie. Eine Frau berichtet von den Umgestaltungen ihrer neuen, weißen Wohnung. Fische, Spinnen, Blumen, Vögel, Sterne an Wänden und Decken, Himmelbett und selbstgebaute Sitzmöbel auf Boden und Balkon. Sie will sich ausdrücken, sie will gestalten und ihre Individualität leben. Sie muss sich transzendieren, weil sie ein Mensch ist. Parallel wird ein gewaltiger Würfel aufgeblasen, dann von einer Frau „bezogen“ und freudvoll erforscht und bewohnt. Die Frau steht am Ende in ihrer nun fast luftleeren Hülle, drückt sie nach oben, behauptet und verteidigt damit ihr Bedürfnis zu wohnen, ihr Recht aufs Menschsein.
Welche Auswirkungen Obdachlosigkeit auf den Menschen hat, ist für nicht Betroffene kaum vorstellbar. Sympathie und Empathie für die sechs auf der Bühne zu empfinden, ist eine der Stärken dieses Stückes. Eine andere ist, Nähe zu diesen unserer Sphäre entrückten Leben zu erzeugen, ja zu provozieren. 90 Minuten lang Menschlichkeit, Mitgefühl und (Un-) Gerechtigkeitsempfinden. Mit viel Potential für Prolongation …
Doris Uhlich GAP (c) Alexi Pelekanos
Die Formen der Wohnungslosigkeit sind so vielfältig wie ihre Ursachen. Wie in dieser Performance bleiben sie für die Zusehenden auch auf der Straße im Verborgenen. Ihr und ihren Folgen auf den emotionalen Zahn zu fühlen gelingt Doris Uhlich mit „GAP“ auf berührende Weise. Dieses „Ich bin unsichtbar“ taugt als primärer Impuls und anklagende Essenz zugleich. Das Stück spricht vom Wert Obdachloser, ihrer Selbstbehauptung und Selbstermächtigung. Über alles aber stellt Doris Uhlich die Würde eines jeden Menschen.
Doris Uhlich mit „GAP“ am 04.04.2025 im Tanzquartier Wien.
Rando Hannemann