Alma Söderberg und Netti Nüganen im Tanzquartier Wien
Zwei Solo-Stücke und die outdoor von einer Live-Performance begleitete Eröffnung der inzwischen sechsten Intervention in der Performance-Passage vor dem Tanzquartier Wien präsentierte selbiges an diesem Abend. Stimme, Sprache und Bewegung eint Alma Söderberg mit Rhythmus. Zum Besuch einer Ausgrabungsstätte mit Punk-Konzert lädt Netti Nüganen. Und Outdoor tanzen Buchstaben in Leuchtkästen eine ausgeklügelte Choreografie von Alma Söderberg.
Alma Söderberg mit „New Old“
Sie braucht nur einen Stuhl auf einem Podest und eine Flasche Wasser. Die Schwedin Alma Söderberg hat eine einzigartige Kunstform entwickelt. Sie formt Laute, die zu Worten werden, aus deren Kombination Sinn entsteht, Gesten, die klingen, zu sprechen beginnen und in ihrer Choreografie Bedeutung erlangen, und das eingebettet in Rhythmus, der alles bindet und in- und auseinander fließen lässt.
Alma Söderberg „New Old“ (c) Nemo Stocklassa Hinders
Ihre zwei Kinder, inzwischen keine Babies mehr, haben sie in vielerlei Hinsicht inspiriert. Ihre Freude beim Performen strahlt unwiderstehlich. „Sche-Pe!“ Englisch meist, spielt sie auch mit „Beckenboden“, vielfach wiederholt, fließend variiert, sehr schnell und in seine Silben und Laute zerlegt, und amüsiert das Publikum. Sie gleitet ins Beatboxing, simuliert eine Geburt, singt und illustriert die Tonhöhe gestisch, sie schnalzt, lässt es rauschen und gewittern (alles ausschließlich mit ihrer Stimme produziert), flicht Worte oder Satzfetzen ein. „You have to decide for yourself!“
Spanisch singt sie einen Song von Mercedes Sosa, übersetzt die Zeilen gleich ins Englische. „Grazias a la vida!“ machte es ihr möglich, Gewitter, Maschinen und die Stimme ihrer Mutter zu hören. Sie liebt die Idee, mit Klang zu denken. Die fundamentale Bedeutung von „In-Out“ spielt sie vor: Metabolismus, Koitus, Zeugung und Geburt, Atmung, Denken etc. Sie zerreißt die Struktur der Wand. „Alles ist so trocken hier.“, und tanzt. „Der Boden. Daraus denken wir.“
Kraftvoll, sensibel, witzig, humorvoll, hintergründig, assoziativ, spielerisch, poetisch, fesselnd und handwerklich hochprofessionell versprüht Alma Söderberg 40 Minuten lang pure Lebensfreude. Mit ihrem letzten Satz verweist sie auf das Prägende unserer familiären, sozialen und territorialen Herkunft und empfiehlt zugleich die Bewusstmachung dessen. Um sich dem in „New Old“ Präsentierten zuwenden zu können: Was uns als Mensch ausmacht, ist allen gleich.
Netti Nüganen mit „The Myth: last day“
Die estnisch-österreichische Performerin und Choreografin Netti Nüganen scheint gestrandet, an ein unbekanntes Ufer gespült oder gemeinsam mit Gegenständen begraben, verschüttet worden zu sein. Endlich auferstanden aus Ruinen mutiert sie ein zweites Mal, nun zu einer Schein-Wissenschaftlerin, die sich nackt, nur mit Stiefeln bekleidet, an die Freilegungsarbeit macht. Ihre archäologischen Funde: ein elastisches längliches Tuch, ein Hühner-Ei, eine Plastikflasche mit trinkbarem Inhalt, ein Stein (eine Formation, schwer wie ihr Kopf), eine kleine Glasflasche mit giftigem Inhalt (gestohlen, sie braucht es für ihre Arbeit), eine elegante Handtasche (Fake-Brand), ein Kraut-Stampfer aus dem Museum, Plastik-Chips für Spielautomaten aus China, ein imaginiertes Rest-Gebäude mit Stühlen und Kerzen, zwei lange blaue Tücher (die überlangen Hosenbeine einer ihrer früheren Hosen), ein Roulette-Rad. Jedes dieser sorgfältig analysierten, auf einem Kinder-Kassettenrekorder dokumentierten Objekte steht für einen ganzen Komplex von psychologischen, kulturellen, ökonomischen und entwicklungsgeschichtlichen Aspekten. Ihre Gesamtheit ergibt eine im Wortsinn „objektive“ Beschreibung unserer Vergangenheit und Gegenwart.
Ihre zwei Kinder, inzwischen keine Babies mehr, haben sie in vielerlei Hinsicht inspiriert. Ihre Freude beim Performen strahlt unwiderstehlich. „Sche-Pe!“ Englisch meist, spielt sie auch mit „Beckenboden“, vielfach wiederholt, fließend variiert, sehr schnell und in seine Silben und Laute zerlegt, und amüsiert das Publikum. Sie gleitet ins Beatboxing, simuliert eine Geburt, singt und illustriert die Tonhöhe gestisch, sie schnalzt, lässt es rauschen und gewittern (alles ausschließlich mit ihrer Stimme produziert), flicht Worte oder Satzfetzen ein. „You have to decide for yourself!“
Spanisch singt sie einen Song von Mercedes Sosa, übersetzt die Zeilen gleich ins Englische. „Grazias a la vida!“ machte es ihr möglich, Gewitter, Maschinen und die Stimme ihrer Mutter zu hören. Sie liebt die Idee, mit Klang zu denken. Die fundamentale Bedeutung von „In-Out“ spielt sie vor: Metabolismus, Koitus, Zeugung und Geburt, Atmung, Denken etc. Sie zerreißt die Struktur der Wand. „Alles ist so trocken hier.“, und tanzt. „Der Boden. Daraus denken wir.“
Kraftvoll, sensibel, witzig, humorvoll, hintergründig, assoziativ, spielerisch, poetisch, fesselnd und handwerklich hochprofessionell versprüht Alma Söderberg 40 Minuten lang pure Lebensfreude. Mit ihrem letzten Satz verweist sie auf das Prägende unserer familiären, sozialen und territorialen Herkunft und empfiehlt zugleich die Bewusstmachung dessen. Um sich dem in „New Old“ Präsentierten zuwenden zu können: Was uns als Mensch ausmacht, ist allen gleich.
Netti Nüganen „The Myth: last day“ (c) Alana Proosa
Und da schleicht noch jener mysteriöse Typ mit falschen Haaren und Maske hinter dem Publikum herum, am Rande der Bühne entlang und hinten auch mal drauf. Der Tod persönlich, der den Stampfer nachdenklich betrachtet? Mysteriös erscheint auch ihr eingeflochtenes Gespräch mit einem imaginären Partner. „Ich habe starke Waffen: Jugend, Sex.“ Und später: „Konstruktionen können den Verfall nicht aufhalten.“ „Ich fühle mich zum Skelett werden.“ Morbide Lyrik beigemischt. Doch auch dieses Gespräch ist nicht anderes als eine Freilegung, hier der psychischen Ursachen für die sich im Materiellen und Kulturellen manifestierenden Wirkungen.
Laut der nur von ihr gehörten Prophezeiung ist sie dem Tode geweiht. Sie buchstabiert S K E L E T O N und E D G E. Fließend ihre Mutation zum Punk. Dröhnender Metal-Sound, wütende Schreie, verzweifelte Statements, chaotische Bewegung. Und sehr viel Staub in der Luft. „Unavailable for health!“
Netti Nüganen performt wie die auf eine personelle Singularität zusammengeschmolzene Menschheit, die ihren eigenen Untergang in mehreren Zeitebenen verursacht, erlebt und rekapituliert. Sie sieht das Verstaubte, Rückwärtsgewandte, Reaktionäre, Zukunft Verhindernde, das sich wie eine Seuche weltweit ausbreitet, die Rechtfertigungen durch die Jünger des globalisierten Turbokapitalismus, die Blindheit und Ignoranz der Mehrheiten gegenüber der Selbst- und Fremdzerstörung, den Widerstand gegen die Bewusstmachung der destruktiven Existenzweise der Menschheit, das Aufzeigen einer verhängnisvollen Entwicklung aus einer noch zukunftsfähigen Vergangenheit heraus, die Wurzel dieser Übel als in das Konzept Mensch einzementiert, die erschütternde Prognose, die wegen des Allzu Menschlichen dieser Themen wenn überhaupt, dann nur eine viele Generationen Überspannende sein kann. Auch den Menschen findet sie in ihrer Rückschau aus einer imaginierten Zukunft nur noch als ein historisch interessantes, als Wurzel und Verursacher all dieser Übel jedoch höchst relevantes Objekt in diesem Haufen archäologischer Fundstücke. Und all das geht ihr mächtig gegen den Strich.
Netti Nüganen „The Myth: last day“ (c) Alana Proosa
Netti Nüganen irritiert auf mehreren Ebenen. Mit der Art der Verflechtung von Kunstgattungen (Performance, Theater, Tanz, Konzert), von Zeiten (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fließen ineinander), von Realem und Imaginiertem, von kalter Wissenschaft und purer Emotion. In dieser Kombination und Bandbreite steht sie damit recht allein auf der Bühne. Vielleicht mag auf das „Wie“ dieser Performance auch ihre Erfahrung mit Florentina Holzingers Arbeiten, mit der sie seit 2017 tourt, gewirkt haben. Die Ästhetiken ähneln sich jedenfalls.
Sie verweist mit dem Setup auf eine vergangene Zeit, mit den ausgegrabenen Gegenständen konkreter auf die frühen 2000er Jahre, mit ihrer Attitüde und der des imaginären Gesprächspartners auf ewig Menschliches. Der letzte Tag ist verheerend und das Jüngste Gericht fällt vernichtend aus. Die Freilegung von unter dicken Schichten Begrabenem zeigt metaphorisch auf einen vordem stattgefundenen Verdrängungsprozess, dessen Ziel, negativ Bewertetes aus dem Bewusstsein zu löschen, mit den gesellschaftlichen und politischen Prozessen der Gegenwart eine gewisse Ähnlichkeit verbindet. Die eineinhalb Stunden „The Myth: last day“ sind ein tiefgründiges, metaphorisch brillantes Bild unserer Zeit. Nicht dystopisch, weil es mit diesem Menschen keine Zukunft geben kann.
Alma Söderberg mit „WOURNLD“
Aus diesen sieben Buchstabe in je einem Leuchtkasten choreografiert sie Worte und mit deren Serialität schließlich variable Wort-Kombinationen und Sätze. OUR WORLD ON WOUND WOULD etc. Die Vernissage an diesem Abend begleitete Alma Söderberg im Stile der im Studio vordem gezeigten Performance mit einer zehnminütigen rhythmischen Laut-Wort-Gesten-Intervention. In der von Andrea Maurer kuratierten Reihe ist diese „visuelle Partitur“ (Programmzettel) die stille Anklage einer ganzen Generation.
Alma Söderberg mit „New Old“ und „WOURNLD“ und Netti Nüganen mit „The Myth: last day“ am 19.01.2024 im Tanzquartier Wien.
Rando Hannemann