WIEN/ Tanzquartier: „A Divine Comedy“ von Florentina Holzinger am 23.10.2021
Dante Alighieri schrieb in den Jahren 1307 bis kurz vor seinem Tod 1321 seine „Divina Commedia“, die bis heute das bedeutendste Werk der italienischen Literatur darstellt. Deren dreiteilige Struktur „Hölle“, „Fegefeuer“ und „Paradies“ verwebt Florentina Holzinger in ihrer neuesten Arbeit, die in der Halle E des TQW als Österreichische Erstaufführung zu sehen war, mit der Rückschau auf das Leben einer 80-jährigen Tänzerin zu einem Spektakel mit Tanz, Musik, Harn, Kot, Blut. Und so weiter. Und mit Tiefgang.
Thanatos, der Gott des sanften Todes, und dessen Bruder Hypnos, der Gott des Schlafes, werden gleich zu Beginn, noch eh der Vorhang sich öffnet, eingeführt. Holzinger zeigt uns, auch weil ein paar Komparsen aus dem Publikum die Hypnose-Szene vor dem Vorhang mitspielen, den todesgleichen Schlaf, in dem wir leben. Hypnotisiert, fremdgesteuert. Und alle sechs dirigieren Beethovens 5., die Schicksals-Sinfonie. Jeder seine eigene. Das Publikum applaudiert. Wie bitter ist schon dieses Bild. Eine, Annina Machatz, wird durch die sexy Hypnotiseurin zu Dante gemacht, der fortan nackt, nur mit roter Kappe und Umhängchen, durch die Jenseitsreiche führt.
Die riesige, tiefe Bühne (Nikola Knežević) wird zum Schauplatz von diesseitigen Höllenqualen. Die 80-jährige Beatrice Cordua, wie viele andere bereits in Holzingers „TANZ“ zu sehen, redet von ihrem 70 Jahre langen Leben als Tänzerin, dessen aktiven Teil sie mit 45, an Parkinson leidend und viel zu früh, beenden musste. Ähnlich erging es der klassisch ausgebildten Florentina Holzinger, an physisch-psychisch-nonkonformer Individualität „leidend“. Beatrice erzählt, was ihr geschah. Im Video wird einem Meerschweinchen das Fell abgezogen.
Foto: Nicola Marianna Wytycak
Zu vielen Hürdenläufen werden vier Sportlerinnen gezwungen. Der Wettbewerb wird durch ein Motocross-Bike noch forciert. Die Höllen-Flammen auf den Screens brennen wie ihre inneren für ihr Ziel. Eine Frau mit Kreissäge kürzt dabei einen Stamm, beschneidet die Frauen scheibchenweise. Die Flamme lodert schwächer. In der Ballett-Schule dirigieren zwei despotische Lehrerinnen. Die Flammen lodern auf. Brennen und verbrannt werden. Je zwei Tänzerinnen erklimmen immer wieder zwei vielstufige Stiegen-Monolithe, tanzen ein paar Schritte und stürzen alsbald hinten ab, dann die Stufen vorn herunter. Nur die Besten kommen weiter. Live-Musik, Cello, zwei Geigen und eine Bläserin, begleiten die Selektion. Sechs Verbliebene hacken Holz, auf den Stämmen stehend, auch synchron, mit Skeletten auf dem Rücken. Ballett-Ausbildung ist Schwerst-, Knochen-Arbeit, und Späne fallen. Das ist nicht neu. Die Screens sind nur noch rot, die Halle dröhnt vom Höllen-Sound (Maja Osojnik & Stefan Schneider).
Im Purgatorium oder dem Berg der Läuterungen gibt Dante den Sündern durch Umkehr des Wesens der Sünde eine Chance. Holzinger macht daraus ein wüstes Techno-Stroboskop-Spektakel. Zwei Autos senken sich herab, zwei Tänzerinnen wie überfahren davorgeschnallt, Tanz, auf den Video-Screens schneebedeckte Berge. Die zwei Treppen, nun zusammengeschoben, erklimmt eine Gruppe, einige noch mit ihren Skeletten umgeschnallt. Sie rollen in Zeitlupe herunter. „Ist der Tänzer ein Künstler oder ein Körper, der erfüllen muss?“ Im Video überzieht jemand ein hölzernes Tierchen-Modell mit dem Nager-Fell. Im Prozess ihrer Ausbildung zu klassischen Tänzerinnen wird ihnen ihre Individualität genommen und durch ein lebloses Ideal ersetzt. Und sie schauen uns an. So wie wir dem Ganzen zuschauen.
Foto: Katja Illner
Sie erwähnen Peter Handtke und einen „sehr berühmten“ Maler. Gemeint ist hier sicher dessen Freund Peter Pongratz. Beide, wie Florentina Holzinger, nonkonformistische Widerspruchsgeister. Vier Frauen defäkieren auf Maler-Paletten. Natürlich ist die Kamera hautnah dabei. Damit, mit live abgezapftem Blut und viel Farbe aus Eimern gibt’s ungegenständliche Malerei auf einer großen Leinwand hinten. Und davor. Eine rauschhafte Körper-Farben-Orgie a la Hermann Nitsch. Und Dante dreht sich am Seil über den Körpern, Farbpulver streuend. Die sich teilende Leinwand gibt eine masturbierende Frau frei, die Kamera auch hier nah am Geschehen. Ein heftiges Squirten, Meer auf den Screens. Sie legen Beatrice zum Sterben, die Kamera auf ihr wehklagendes Gesicht gerichtet. Da entsteht etwas wie Rührung. Im Sterben wird sie von Holzinger persönlich per Strapon (einem Umschnall-Penis) gefickt. Eros und Thanatos, Lebens- und Todestrieb vereint auf die Bühne. Und Beatrice‘ Gesicht in den Wolken. Sie stopfen einer gebundenen Frau das hölzerne Pelztier in den Mund. Läuterung also durch Abkehr von Tabus. Durch eine neuen Zeitgeist.
Den Spitzenschuh, im klassischen Tanz das Symbol für die Überwindung der Schwerkraft, die Verbindung zum Himmel, karikiert Holzinger, indem sie zwei Tänzerinnen an den Füßen aufhängt und schön, also symmetrisch angeordnet hinaufziehen lässt. Von zwei Mit-Performerinnen. Während der vom Kollektiv vollführten Grablegung. Hier wird, wie sehr häufig in ihren Stücken, ein Grundprinzip ihrer Theaterarbeit sichtbar. Sie will Räume schaffen für Grenzüberschreitungen, für neue Perspektiven und Seinsformen. Das damit verbundene Risiko jedoch wird kontrolliert durch ein weiblich-fürsorgliches Miteinander. Die in die Extrem-Situationen hinein installierte Solidarität der Frauen kennzeichnet ihre Werke maßgeblich.
Foto: Katja Illner
In den Himmel fahren die zwei Autos, zwei suizidierte Tänzerinnen schlingern in ihnen, und das senkrecht hinaufgezogene Piano. Die Pianistin klemmt auf ihrem Stuhl daran, spielt virtuos. Der Chor der Performerinnen-Engel singt schön.
Dante kämpft mit riesiger Klobürste gegen zwei gigantische Skelette. Das Überwinden der Dualität aus Leben und Tod sowie die kulturelle und gesellschaftliche Verdrängung alles mit Sterben und Tod Verbundenen in ein abgründig humorvolles Bild gepackt. Die Hypnotiseurin macht aus Dante wieder Annina. „Ihr habt erlebt, wie wundervoll Leben und Tod sind.“ Und die Klospülung im Dixie-Klo kündigt Beatrice‘ Erscheinen an. „Es ist vollbracht! Applaus!“ Den Jubel genossen die Vielen auf der Bühne sichtlich.
Das manchmal Plakative ihrer Bildsprache möge man Florentina Holzinger vergeben. Sie möchte auf jeden Fall verstanden werden, wenigstens in Teilen auch von den vielen Sensationshungrigen, für die Theater sonst nur schöne Architektur sind. Aber das Konzept geht auf. Für sie und die Häuser lohnen sich diese Spektakel.
Und warum bringt Florentina Holzinger mit „A Divine Comedy“ nach „TANZ“ erneut eine die klassische Tanz-Welt so harsch kritisierende Arbeit auf die Bühne? Was treibt sie an? Ist es eine anhaltende Frustration, ausgelöst durch die Ablehnung, die sie zu Zeiten ihrer klassischen Ausbildung und als junge Tänzerin erfuhr? Bezieht sie die Energie für ihre Spektakel aus Wut und Hass? Sind in all dieser so drastisch formulierten Kritik konstruktive Elemente zu finden? Ja. Ihre auch feministische Rebellion will uns „neuen Räumen jung entgegen senden. Wohlan denn, Herz. Nimm Abschied und gesunde!“ Und schon am Anfang der Höllen-Szenerie orakelte es auf dem Screen: „Am Ende werden wir Liebe sehen.“
Rando Hannemann
gesehen am 23.10.2021 im Tanzquartier Wien