WIEN / Staatsoper: LA BOHÈME mit Anna NETREBKO
449. Aufführung in dieser Inszenierung
5. September 2022
Von Manfred A. Schmid
Keine stirbt so schön wie sie. Foto: Facebook
Bis auf ein paar Hörplätze auf der Galerie ist das Haus krachvoll ausgelastet und mit Spannung und fibrierender Erwartungshaltung aufgeladen. Kein Wunder- kehrt doch an diesem Abend d i e Netrebko an die Staatsoper zurück und absolviert als Mimì – so viel sei jetzt schon verraten, auch wenn es eigentlich keine Überraschung ist – einen spektakulären, begeistert akklamierten Auftritt. Obligate Buhrufe von selbsternannten Anstandswächtern natürlich inbegriffen. Bevor es aber so weit ist, taucht das Publikum ein in den Bohème-Alltag einer Wohngemeinschaft von Künstlern in Montmartre, wie ihn der große Zeffirelli in seiner legendären Inszenierung gekonnt hingepinselt hat.
Besetzungsmäßig wird da nicht gespart. Sänger von Rang und Namen treffen aufeinander und agieren wie rivalisierende, sich aneinander messende Platzhirsche in der Brunftzeit. Testosteron trifft auf höchste Gesangskultur und Gestaltungsdrang. Jeder, ob George Petean als Marcello, Günther Groissböck als Colline, aber auch der kraftvoll nachrückende Martin Hässler, hat Gesten, überraschende Wendungen und Mimik auf Lager, um seinen Auftritt möglichst einprägsam ablaufen zu lassen und die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Eine besondere Gelegenheit dazu bietet die fein choreographierte gemeinsame Fitnessübung. Da übertrifft Groissböck mit seinem im Verhältnis zum Standbein rechtwinkelig ausgestreckten Bein alle Mitstreiter. Im letzten Bild aber zeigt er mit seiner empathischen, nicht ohne Ironie vorgetragenen Liebeserklärung an den Mantel, warum diese Luxusbesetzung Sinn macht: Jeder dieser Charaktere ist von Puccini so liebevoll und mit spürbarer Hinwendung gestaltet, dass er eine bestmögliche Besetzung verdient. Zudem muss festgehalten werden: Trotz der aufgeladenen Atmosphäre ist die Gemeinschaft, die Freundschaft und das Verständnis füreinander immer da und überstrahlt alles Buhlen um die Gunst des Publikums.
Vittorio Grigolo. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Das gilt auch für Vittorio Grigolo als Rodolfo. Der italienische Tenor mit besonderer Hinwendung zum italienischen Fach ist bekannt dafür, dass er auf der Bühne stets in Höchstspannung ist (und das sich auch gerne anmerken lässt). Diesmal aber geht er an seine Aufgabe heran, als ob es um nichts weniger als sein Leben ginge. Dennoch kann er sich, wenn nötig, auch zurücknehmen und zarte, mitfühlende, innige Töne anschlagen. Gelegenheit dazu gibt es in dieser Oper, angesichts der tragischen Geschichte um die todkranke Näherin Mimì, genug. In den glühenden Liebesduetten ist es schon von Vorteil, wenn ein Kaliber wie er an der Netrebko auf Augenhöhe gegenübertreten und bestehen kann.
Wie Groissböck ist auch George Petean ein Rollendebütant, hat aber ansonsten schon jede Menge Baritonrollen dank seiner geschmeidigen, farbenreichen Stimme mit Leben erfüllt. Als Marcello gelingt ihm dies auch diesmal. Ein mitfühlender Freund, der selbst in einer nicht einfachen Beziehung lebt, wie man das heute ausdrücken würde. Seine Begegnung im Schnee mit Mimì am Beginn des 3. Bildes geht unter die Haut.
Nina Minasyan hat vergangenen März als Adina in L´elisir d´amore das Wiener Publikum – und auch den Rezensenten, wie im Online Merker nachzulesen – entzückt. Ihr Rollendebüt als Musetta fällt hingegen enttäuschend aus. Sie hat nur eine Chance. Wenn ihr großer Auftritt im Café Momo nicht gelingt, ist sie vertan. Aber leider war das neckisch-kokette Walzerlied „Quando m´en vo´“ keine Offenbarung, was in einer Aufführung wie dieser, die so großzügig mit besten Kräften besetzt ist, umso mehr ins Gewicht fällt. Hoffentlich nur der Tagesverfassung geschuldet.
Als Benoit/Alcindor kommt Marcus Pelz zum Einsatz, macht seine Sache ausgezeichnet und ist nahe daran, in die großen Fußstapfen des unvergessenen Vorbilds Alfred Sramek hineinzuwachsen.
Mittelpunkt und Krönung des Abends ist natürlich Anna Netrebko in der Titelpartie. Sie wird bei ihrem ersten Auftritt von ein paar wenigen Rechthabern ausgebuht, bevor sie noch einen Ton gesungen hat. Die Proteste richten sich ja auch nicht gegen sie als Sängerin, sondern wegen ihrer angeblich so verwerflichen politischen Haltung. Darauf näher einzugehen, ist hier nicht am Platz. Aber der riesengroße Applaus, der die Buhrufe übertönt und geradezu lächerlich erscheinen lässt, ist ein Zeichen dafür, das die überwältigende Mehrheit die Entscheidung von Staatsoperndirektor Roscic freudig begrüßt und mit ihr einverstanden ist. Bereits in den ersten Momenten ihrer Begegnung mit Rodolfo, in der ergreifend zärtlichen, wechselseitigen Vorstellungsepisode, schlägt sie mit ihrer inzwischen etwas weiter nachgedunkelten Stimme und ihrer intensiven Gestaltung alle in ihren Bann. Und dieser magische Zauber hält bis zum Schluss durch, wenn die einzigartige Netrebko wieder einmal den Nachweis dafür erbringt: Niemand stirbt so schön wie sie.
Mächtiger, jubelnder Applaus und ein paar trotzige Buhrufe. Rundum vor Begeisterung leuchtende Augen und glückliche Mienen. Ein Abend nicht wie alle Tage. Ein Abend den man nicht so bald vergessen wird. Die Diva und der Grigolo. Der wie immer nicht umhin kommt, vor Dankbarkeit den Bühnenboden zu küssen und die ganze Welt zu umarmen.