
Statt des Balletts eine Pantomime mit Malin Byström (Elisabeth), Jonas Kaufmann (Don Carlos), Michele Pertusi Philippe II) und Eve-Maude Hubeaux (Eboli). Alle Fotos: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
WIEN / Staatsoper: Wiederaufnahme von Konwitschnys Inszenierung des DON CARLOS
34. Aufführung in dieser Inszenierung (Französische Urfassung)
27. September 2020
Hoch gingen die Wogen der Empörung, als Verdis 1867 uraufgeführte französische Fassung des Don Carlos als Grand Opéra 2004 erstmals in Wien auf die Bühne gebracht wurde. Die Erregung richtete sich in erster gegen den Regisseur Peter Konwitschny, dem nichts weniger als eine „Schändung“ des fünfaktigen Werks vorgeworfen wurde – von Menschen wohlgemerkt, die diese Oper gar nicht kennen konnten, denn die von Bertrand de Billy eigens für diese Produktion rekonstruierte Urfassung, mit zahlreichen dafür aufgemachten Strichen (schon die Pariser Uraufführung war gegenüber der in der Generalprobe gespielten Partitur bereits empfindlich eingekürzt worden) und ein paar wenigen Übernahmen aus späteren Überarbeitungen des Meisters, war in dieser Form noch nie dargeboten worden und daher gewissermaßen eine Uraufführung. Die lautstarken Gegner des Regietheaters randalierten aber so stark, dass zeitweilig – wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu berichten wusste – sogar ein Abbruch im Raum stand. Acht Jahre und 27 Aufführungen später hatte diese Inszenierung – eigentlich eine etwas veränderte und erweiterte Übernahme einer früheren Produktion Konwitschnys an der Hamburger Staatsoper – bereits so etwas wie Kultstatus erlangt. Manche Kritiker, die sich bei der Premiere erbost über das Gebotene äußerten, konstatierten nun allerdings sogar schon Ermüdungserscheinungen und Langeweile.
Die Aufgeregtheit also ein für allemal erledigt? Weit gefehlt. Bei der jetzigen Wiederaufnahme, weitere acht Jahre später, kommt es erneut zu einem Buh-Orkan, wie man ihn im Haus am Ring schon lange nicht mehr erlebt hat. (Bravorufe sind laut den Corona-Regelungen des Hauses übrigens verboten, sind dennoch in fast jeder Aufführung zu hören. Buhrufe hingegen sind in der Verordnung nicht erwähnt. Sind sie deshalb erlaubt?) Doch auch die Verteidiger des Regiekonzepts melden sich und halten mit starkem Applaus dagegen. Das Verhältnis der beiden Gruppen auf der Galerie könnte ungefähr auf 50:50 eingeschätzt werden. Anlass des Aufruhrs: „Ebolis Traum“ – Peter Konwitschnys Regieeinfall, das Ballett, das bei einer großen französischen Oper zur Mitte des 19. Jahrhunderts unbedingt dazugehörte, nicht tänzerisch zu gestalten, sondern als Pantomime aufzuführen. Zu sehen ist der bieder-spießbürgerliche Alltag des Ehepaares Eboli und Carlos an einem Abend, an dem die Königs – ihre Eltern bzw. Schwiegereltern Philippe und Elisabeth – zu Besuch kommen und mit einer angelieferten Pizza abgefüttert werden, weil der Braten im Rohr verkohlt ist. Das hört sich so banal an, wie die Musik tatsächlich ist. Verdi ist der Auflage für die Pariser Aufführung eine Ballettmusik anzufertigen, hörbar unwillig nachgekommen, weil sie in das dramaturgische Konzept seines Musikdramas überhaupt nicht hineingepasst hatte. Ein Ballett am gemäß strengem Zeremoniell stets schwarzgewandet und mit ernster Miene einherschreitenden spanischen Hof ist tatsächlich nur schwer vorstellbar. Dementsprechend platt und uninspiriert ist die dafür geschriebene Musik ausgefallen. Und angesichts eines von Vornherein unauflösbaren Dilemmas bietet Konwitschny immerhin Slapstick an, über den man lachen kann, wenn man will. Und das ist bei einer sich anbahnenden großen Tragödie – siehe Shakespeare – durchaus gestattet.
Coronabedingt ist ein weiterer Regieeinfall Konwitschnys, der seinerzeit für Aufregung gesorgt hatte, für die aktuellen Aufführungsserie umgearbeitet und entschärft worden: Der Autodafé-Akt, der ursprünglich in der Pause stattfindet und als großer Medienevent – mit von TV-Kameras übertragenen Liveauftritten- inszeniert ist und auch die Pausenräume und Stiegenaufgänge und damit auch das Publikum miteinbezieht. Die Einspielungen aus den angeschlossenen Räumlichkeiten wurden nun vorproduziert und werden auf eine Leinwand über der Bühne projiziert. Die dadurch erreichte Zusammenfassung der simultan stattfindenden Ereignisse an verschiedenen Standorten, die in einer Hexenverbrennung kulminiert, macht das Geschehen fassbarer und übersichtlicher und die darin geübte Kritik an der medialen Sensationsgier tritt etwas klarer hervor. Doch die Simultaneität eines Stationentheaters laut ursprünglichem Konzept hat natürlich auch ihren künstlerischen Anspruch, so dass der Regisseur darauf bestand, dass Staatsoperndirektor Roscic vor Beginn der Vorstellung auf diese Änderungen aufmerksam machen muss.

Jonas Kaufmann (Don Carlos), Malin Byström (Elisabeth du Valois)
Nun aber zu den sängerischen und darstellerischen Leistungen des Abends. Auf der Besetzungsliste finden sich mehrere in Wien bisher unbeschriebene Namen, darunter gleich drei intensive und gelungene Hausdebüts in zentralen Rollen. Der russische Bariton, Igor Golovatenko, international bereits eine Größe, ist an der Staatsoper zum ersten Mal zu erleben. Als prächtig singender, hervorragend agierender Rodrigue beherrscht er die Bühne und ist ein ebenbürtiger Partner von Jonas Kaufmann. Golovatenko hat eine mächtige, elegante Stimme mit farbenreichem, dunklem Timbre, die er souverän zu führen weiß. Ein klangschöner, in allen Lagen sicherer Kavaliersbariton. Warum in dieser Inszenierung Rodrigue und Carlos ihr die unverbrüchliche Freundschaft beschwörendes Duett einander auf allen Vieren entgegen und aneinander vorbei robbend singen und dabei abwechselnd jeweils eine Hand hochheben müssen, bleibt rätselhaft, ändert aber nichts an der Tatsache, dass ihr Pakt glaubwürdig bis zum Tod ist.
Jonas Kaufmann, der in mehr als zehn Jahren schon als Don Carlo in der italienischen Fassung Erfahrung gesammelt hat und 2017 erstmals als französischer Don Carlos an der Opéra National de Paris in Erscheinung getreten ist, kämpft am Beginn, im Fontainebleau-Akt, hörbar mit Probleme beim Ansetzen höherer Töne. Seine Auftrittsarie „Je l’ai vue“ klingt daher noch alles andere als überzeugend. Das gibt sich dann bald, dennoch ist er an diesem Tag nicht der stimmlich strahlende Tenor, den man gewohnt ist. Das hängt zum Teil gewiss an seiner Rolle, denn die Titelfigur ist als schwacher Charakter gekennzeichnet und alles andere als ein strahlender Held, und die dunkle Färbung seiner Stimme unterstreicht nicht gerade die Jugendlichkeit von Carlos. Kaufmann hat damit zu kämpfen, von Golovatenko nicht in den Schatten gestellt zu werden. Doch nach den Anfangsschwierigkeiten kommen beide gesanglich immerhin auf Augenhöhe. Berührend das Abschiedsduett von Carlos und Elisabeth, „Au revoir das un monde où la vie est meilleuere“. Die flüsternden Pianissimi Kaufmanns sind von bezwingender Zärtlichkeit und Schönheit.
Ein Hausdebütantin ist Malin Byström. Die schwedische Sopranistin, die bisher vor allem mit ihren Strauss-Rollen auf sich aufmerksam gemacht hat, verfügt sowohl gesanglich wie auch darstellerisch über eine große Ausstrahlung und ist als Elisabeth du Valois, die zwischen Liebe und Pflicht zerrissen wird, mit ihrem reichen, satten Sopran, der sich aber auch in überaus zarte Regionen hoch zu schwingen vermag, eine ideale Besetzung.
Höchst erfreulich auch Eve-Maud Hubeaux, die bei ihrem Hausdebüt als Eboli ihren frei schwingenden, wandlungsfähigen Mezzosopran gut einzusetzen weiß. Das „Schleier-Lied“ gelingt ihr vorzüglich. Mit einer wunderbar leichten Höhe und ungehindert strömender Stimme verleiht sie der schillernden Figur der hochgestellten Hofdame ein starkes Profil. Ihre Reue angesichts des von ihr angerichteten Unheils bekundet sie ebenso wahrhaftig wie ihr spätes Engagement für eine Rettung von Carlos.

Roberto Scanduzzi (Großinquisitor), im Hintergrund Michele Pertusi (Philippe II) und Malin Byström (Elisabeth)
Nicht ganz so überzeugend fällt Michele Pertusis Rollendebüt als Philippe II aus. Insgesamt ist seine Stimme in der Tiefe zu wenig prägnant für diesen komplexen, von Einsamkeit und Misstrauen heimgesuchten Herrscher. Seine Darstellung Philipps bleibt oberflächlich, die Tragik seiner Psyche wird nicht ergründet und bleibt verborgen. Dafür ist sein Bass offenbar zu wenig beweglich. In seiner großen Arie, in der er seine Lage schildert, legt er, triefend vor Selbstmitleid, zudem zu viel Larmoyanz an den Tag. Die Autorität, die diese Person, allen Widrigkeiten zum Trotz, ausstrahlt, vermittelt er kaum.
Ähnliches ergibt der Befund von Roberto Scanduzzi Einsatz als Großinquisitor: Auch er bleibt bei der Gestaltung dieses furchterregenden obersten Vertreters der allmächtigen Inquisition vieles schuldig. Der vom Orchester mit brutalen, drohenden Akkorden angekündigte Auftritt wird nicht eingelöst. So richtig gefährlich und unheimlich wirkt sein Großinquisitor nämlich nicht, sondern eher wie ein blutleerer Kirchenbürokrat, der sich verkleidet hat, um einen Kunden ein bisschen zu erschrecken.
Einen feinen Eindruck hinterlässt das noch junge Ensemblemitglied Virginie Verrez bei ihrem Rollendebüt als Thibault. Eines Tages wird man sie wohl als Eboli bewundern können. Ein gestandenes und ebenso verlässliches Ensemblemitglied ist hingegen der Bass Dan Paul Dumitrescu, der schon bei der Premiere dabei war und wieder einen kompetenten, würdevollen und menschenfreundlichen Mönch verkörpert. Zu erwähnen sind noch, durchwegs gut rollendeckend, Robert Bartneck (Graf von Lerma/Herold) und Johanna Wallroth (Stimme vom Himmel), sowie die von Konwitschny eigens eingeführten Sprechrollen Moderratorin (Katie La Folle) und Coryphée (Johannes Gisser).
Das Orchester und der bestens vorbereitete Chor bringen unter der Leitung von Bertrand de Billy die französische Partitur in all ihren charakteristischen Facetten zum Klingen. Die von Verdi alsbald vollzogene Straffung der Handlung in der italienischen Fassung ist in ihrer lakonischen Stringenz dramaturgisch gewiss effektvoller. Dieser Opernabend aber führt nicht zuletzt auch die Vorzüge der französischen Urfassung vor Augen und Ohren. Und da gibt es vieles – vor allem im Fontainebleau-Akt, der die Vorgeschichte zur Tragödie ausladend schildert – zu bewundern. Auf die Ballettmusik hätte man verzichten können, aber im Konzept von Peter Konwitschny erhält sie jene banale Nichtigkeit zugesprochen, die ihr gebührt. Der Rest – alles andere – ist Musik-Geschichte.
Beim Schussapplaus war auch die Buhruf-Orgie schon längst wieder vergessen und Rezeptionsgeschichte. Begeisterter Applaus mit Abstufungen zeugt von der Dankbarkeit, diesem Werk in einer so extravaganten dramaturgischen Produktion wieder begegnen zu können. Was für ein Opernhaus, das den Don Carlo(s) gleich in zwei Ausgaben im Repertoire hat.
28.9.2020