WIEN / Staatsoper: Wiederaufnahme von Brittens BILLY BUD
29. Aufführung in dieser Inszenierung
26, Oktober 2024
Von Manfred A. Schmid
Benjamin Brittens Billy Budd, nach einem Roman von Herman Melville, ist eine Männeroper und spielt auf einem Kriegsschiff. Wäre es ein Theaterstück, ein übereifriger Regietheater-Freak hätte garantiert schon längst alle Rollen mit Frauen besetzt. Weil man das heute eben so macht. Bei einer Oper wäre das schon schwieriger, denn da müsste auch die Musik umgeschrieben und adaptiert werden. Aber wer weiß?
Da es sich im vorliegenden Fall aber um eine Wiederaufnahme handelt, kann Entwarnung gegeben werden. Willy Decker hat 2001, rund 50 Jahre nach der Weltpremiere des Stücks, für die Wiener Erstaufführung von Brittens maritimem Meisterwerkwerk über unterdrückte Leidenschaften und die Last von Schuld und Gerechtigkeit eine strenge, etwas unterkühlte Inszenierung vorgelegt. Die Titelfigur, ein glücklicher, arbeitsamer, attraktiver, auf Anhieb bei allen an Bord der „Indomitable“ beliebter junger Matrose, wird vom Waffenmeister Claggart über von ihm bestochene Spitzel so lange schikaniert und provoziert, bis Billy seinem Widersacher bei einem Verhör vor dem Kapitän Vere gegenübersteht. Als Billy auf die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe von Verrat und Anstiftung zur Meuterei antworten soll, ist er, der in erregten Situationen immer stottert, dazu nicht in der Lage und schlägt stattdessen zu. Der Getroffene fällt zu Boden und stirbt. Darauf steht die Todesstrafe, an der der verständnisvolle und ihm zugetane Kapitän leider nicht vorbeikann, obwohl ihn der Verurteile verzweifelt um Hilfe anfleht.
Willy Decker belässt die Handlung in der Zeit der Französischen Kriege Ende des 18. Jahrhunderts, was der Inszenierung guttut, denn die Hassparolen und Beschimpfungen der Franzosen durch die Besatzung und die aufgeheizte, gewalttätige Stimmung ergeben nur so einen Sinn. Die Hintergründe der der sich auf der einem Schiffsdeck nachempfundenen Bühne von Wolfgang Gussmann abspielenden Dreiecksgeschichte lässt Decker offen. Dass die Tragödie im Subtext homoerotische Züge hat, ist offensichtlich. Aber auch das Aufeinanderprallen der Welt des Guten, personifiziert in der Figur Billys, mit der Welt des Bösen, in der Verkörperung durch Claggart, lässt sich aus dem Geschehen als eine sinnvolle Interpretation ableiten. Als Rahmenhandlung tritt in Brittens Oper der alte, längst in Ruhestand befindliche Kapitän Vere auf, der sich an den tragischen Vorfall erinnert und am Schluss den Trost in der Überzeugung findet, dass es eine göttliche Gerechtigkeit gibt, die die irdische Gerechtigkeit aufheben kann und – wie im vorliegenden Fall – dies wohl auch tun wird.
In der Premiere war die Rolle von Kapitän Vere mit Neil Shicoff, dem Spezialisten für innerlich zerrissene Charaktere, besetzt. Bo Skofhus war Billy, Eric Halfvarson der Bösewicht Claggart. Der Kapitän wird diesmal vom stimmlich und dramatisch brillanten amerikanischen Tenor Gregory Kunde dargestellt, der für diese Rolle wohl schon etwas zu alt wirkt. Ein grüblerischer, humanistisch eingestellter Mann, der in den freien Minuten in seiner Kabine die alten Griechen liest und Gott um die Stärke bittet, damit er seiner Verantwortung gerecht werden kann. Aber auch ein alter Mann, der für den Rest seines Lebens von Zweifeln heimgesucht wird und auf Absolution hofft.
Der jungte britische Bariton Huw Montague Rendall in der Titelrolle ist ein sympathischer, fescher, frohgemuter Seemann, der seinen Dienst am Schiff „Indomitable“ freudvoll antritt und – bis auf seine letztlich fatale Stotterei – alles für eine glänzende Karriere mitbringt und auf Anhieb die Herzen der Crew und der Vorgesetzten erobert. Nach dem Urteil, das im Morgengrauen vollstreckt wird, muss er allein in einer Zelle mit der radikal veränderten Lage zurechtkommen. In einem langen Monolog, begleitet von Flötentönen, die wie fröhliches Vogelgezwitscher hereinwehen, versucht er die Ungerechtigkeit der Welt mit dem Guten, für das er steht, irgendwie in Einklang zu bringen. Nur der alte, Wärme ausstrahlende Seebär Danker (Dan Paul Dumitrescu) sucht ihn auf und verspricht ihm, ihn in seinen letzten Minuten an der Hand zu halten. Als Billy beim Gang zum Galgen ein letztes Mal an Kapitän Vere vorbeigeht, wünscht er ihm Gottes Segen. Er selbst hat es gleich hinter sich gebracht, weiß aber, dass Vere ein Leben lang darunter zu leiden haben wird. Ein glanzvolles, eindrucksvolles Hausdebüt.
Die Rolle des bösen, düsteren Claggart ist dem britischen Bass Brindley Sherratt anvertraut, der mit einer dunklen, kraftvollen und wohltönenden Stimme ausgestattet ist. Seinen Offenbarungs-Monolog, in dem er, wie ein Wurm am Boden liegend, ähnlich wie Jago in Verdis Otello seine Schlechtigkeit bekennt, Gott als strafende Instanz fürchtet und dennoch daran festhält, den unschuldigen Billy ohne Skrupel vernichten zu müssen, ist in seiner Dämonie kaum zu übertreffen und geht unter die Haut. An Billy lobt er dessen Schönheit, Anmut und Güte (dieselben Eigenschaften, die auch Vere hervorhebt), sträubt sich aber, anzuerkennen, dass er ihn mehr begehrt, als es ihm lieb ist. Schon deshalb muss er weg.
Der Bariton Adrian Eröd, der in einer Aufführungsserie an der Staatsoper bereits 2011 den Billy spielte, nachdem er diese Rolle als blutjunger Sänger schon in den 90er-Jahren auf der freien Opernszene verkörpert hatte, ist diesmal wieder mit dabei. Nun allerdings als Leutnant Redburn, der gemeinsam mit Wolfgang Bankl als Mr. Flint und Attila Mokus als Ratcliff zum Führungspersonal an Bord gehört, das beim einberufenen Kriegsgericht die Zeugenbefragung durchführt und das Urteil zu sprechen hat. Ein starkes, verantwortungsbewusstes und dennoch in eine Extremsituation überfordertes Trio, hervorragend aus dem Haus besetzt.
Aus dem Ensemble kommen auch die Besetzungen der weiteren Nebenrollen. Lukas Schmidt ist als Korporal Squeak einer der von Claggart angeheuerten Spitzel, die auf Billy angesetzt werde. Als er versagt, wird der zwangsverpflichtete Neuling (Hiroshi Amako), den Claggart zuvor auspeitschen ließ, dazu auserkoren, Billy mit Geld zu bestechen, die Führung der Aufrührer zu übernehmen, was ebenfalls misslingt. So muss Claggart am Ende selbst die Initiative ergreifen, um ihn beim Kapitän zu diskreditieren.
Evgeny Solodovnikov (Bootsmann) und Andrei Maksimov (Seemann Donald) sowie Jusun Gabriel Park und Marcus Pelz als 1. und 2, Maat treten u.a. als Sänger von Seemansliedern in Erscheinung. Eine wichtige Rolle kommt auch dem von Martin Schebesta einstudiertern Chor der Matrosen zu.
Dass dem Meer eine tragende Rolle zukommt, ist bei Benjamin Britten, wie auch in dessen Oper Peter Grimes nachzuvollziehen, geradezu selbstverständlich. Wie eine Abfolge von großen Wellen nimmt sich die Musik an manchen Stellen aus. In den Zwischenspielen ist das Meer ebenfalls allgegenwärtig, spiegelt aber auch die seelischen Konflikte wider, mit denen die drei Hauptakteure konfrontiert sind. Höhepunkte sind Claggarts unfrommes Credo und der Aufmarsch der Besatzung zur großen Seeschlacht. Da lässt Mark Wigglesworth, der musikalische Leiter der Aufführung, das Blech und das Schlagwerk wie schwere Geschütze aufmarschieren. Von bezwingender Macht sind auch die 35 vereinsamten Seufzer-Akkorde, die aus dem Orchestergraben nach Veres folgenschwerer Entscheidung klagend zum Himmel steigen. Sie künden von Schuld, Scham, Schrecken, Unsicherheit, Reue und schweren Zweifeln.
Ein großer, packender Opernabend im nicht ganz ausverkaufen Haus. Zu hoffen ist, dass die Folgevorstellungen so gut besucht werden, wie sie es verdienen würden. 30 Aufführungen, inklusive der vorliegenden, sind nach fast 25 Jaren eine klägliche Bilanz für eines der wenigen Opern-Meisterwerke aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts.