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WIEN / Staatsoper: WERTHER

Solider Opernabend mit Anlauf

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Julie Boulianne (Charlotte) und Dmitry Korchak (Werther). Alle Fotos: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper: WERTHER

71. Aufführung in dieser Inszenierung

19. November 2022

Von Manfred A. Schmid

Goethes gleichnamiger Briefroman über eine mit Selbstmord endende Liebesgeschichte stammt aus der „Sturm und Drang“-Zeit, verweist mit seiner mystischen Naturanbetung aber auch schon auf den sich ankündigenden Übergang in die Romantik und führte bei seiner Veröffentlichung europaweit zu einer Serie von Selbstmorden aus unglücklicher Liebe. Andrei Serban verlegt 2005 in seiner Inszenierung von Jules Massenets spätromantischem „Drame lyrique“ Werther, das mit der Originalvorlage recht frei umgeht, die Handlung in die 50-er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Da das der Tragödie zugrundeliegende Beziehungsdreieck Braut – Bräutigam – Liebhaber bzw. Ehemann – Ehefrau – Liebhaber noch immer zu Konflikten verschiedenster Art führen kann, ist das auch ohne wesentliche Reibungsverluste durchaus möglich. Der Gewinn dieser Transponierung hält sich allerdings in Grenzen. Was bringt’s? – Den Mief der Nachkriegszeit im Schutze eines mächtigen, begeh- und bespielbaren Baums im wechselnden Kleid der Jahreszeiten (Bühne Peter Pabst; Kostüme Peter Papst und Petra Reinhardt).

Trotzdem freut man sich – angesichts der von Ex-Staatsoperndirektor Ioan Holender eben erst ausgesprochenen Warnung vor den verhängnisvollen Konsequenzen des überhandnehmenden Regietheaterunwesens –, wenn in dieser Inszenierung am Schluss es immer noch Werther ist, der hier stirbt, und nicht Charlotte, und Werther schließlich auch nicht von Albert erschossen wird, sondern Selbstmord begeht. Das Geschehen läuft eben so ab, wie’s im Büchel (der Librettisten Blau, Milliet & Hartmann) festgeschrieben steht. Und wenn Werther im 3. Akt nach langer Abwesenheit zurückkehrt und beim Wiedersehen das vertraute Cembalo besingt, steht auch tatsächlich ein Cembalo dort. Heutzutage fast schon eine Sensation. Man ist in seinen Ansprüchen eben wirklich schon sehr bescheiden geworden.

Nicht bescheiden sollte man sich an der Staatsoper aber, wenn es ans Eingemachte geht: Musik und Gesang. Das sind nämlich die Konstanten, an denen die Regietheaterleute noch nicht ihre Hand anlegen, da die meisten von ihnen – so nachzuhören in Holenders Expertise – ohnehin keine Noten lesen können. Bei der Premiere stand übrigens Philippe Jordan am Dirigentenpult, es war sein Premierendebüt an der Staatsoper. Diesmal ist es der aus Argentinien stammende Alejo Pérez. Das, was aus dem Orchestergraben kommt, klingt sehr ordentlich, es fehlt aber das gewisse Etwas. Die suggestiven Klänge, mit denen Massenet im ersten Akt die Mondnacht und im zweiten Akt die herbstlich-weinselige, altdeutsche Oktoberfeststimmung heraufbeschwört, wirken schal und blass. Nur die Streichersoli – Violine und Cello – sowie die tiefschürfende Untermalung von Charlottes Briefszene durch das Saxofon sorgen für betörendes Gänsehaut-Feeling.

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Julie Boulianne (Charlotte) und Maria Nazarova (Sophie).

Recht zäh, um nicht zu sagen: langweilig gestalten sich die beiden ersten Akte auch auf der Bühne. Dabei wurlt es da eigentlich schon recht heftig: Dramatische Zuspitzungen kündigen sich an, Emotionen brechen hervor (Werther) oder werden unterdrückt (Charlotte). Davon aber ist wenig zu verspüren. Julie Boulianne als Charlotte wirkt bei ihrem Hausdebüt, gesanglich wie auch darstellerisch, zunächst zu verhalten. Auch Dmitry Korchak in der Titelpartie agiert und singt anfangs wie auf Sparflamme, so dass er stellenweise etwas zu leise klingt. Bei seinem Liebesgeständnis „Rêve! Extase! Bonheur!“ wird nicht nur vom Amtmann unterbrochen, sondern zudem vom Orchester zugedeckt. Nur Maria Nazarova bringt Farbe in das Geschehen. Ihre lebenslustige Sophie wirbelt mit der ihr anvertrauten Kinderschar fröhlich über die Bühne und ist eben dabei, die ersten Liebesregungen und ihre Gefühlswelt als Frau zu entdecken. Dass ihre heimliche Zuneigung zu Werther von diesem nicht erwidert wird, wird sie wohl nicht allzu sehr belasten. Da ist sie um einiges pragmatischer und freier als ihre große Schwester.

Erst nach der Pause zeigt das zum Unglück verdammte Liebespaar, was in ihm steckt. Korchak mobilisiert alle seine Fähigkeiten und Gesangstechniken, um mit seiner nicht allzu großen Stimme in der schwärmerisch vorgetragenen Ossian-Rezitation „Pourquoi me réveiller“ doch noch zu punkten. Das gelingt Ihm, dem das italienische Fach weiterhin näher liegen dürfte als das französische, auf recht ansprechende Weise, auch wenn er dabei forcieren muss. Dass es hier – wie in allen vier Akten – keinen Szenenapplaus gibt und von einem Da Capo keine Rede sein kann, zeigt aber, dass sich das Publikum diesmal nicht zu Begeisterungsstürmen hingerissen fühlt.

Auch Julie Boulianne legt gestalterisch deutlich zu und avanciert mit ihrer entsagungsreichen Tränenarie „Va ! Laisse couler mes larmes“ zum eigentlichen Zentrum der Handlung. Ihr Eintreffen am Bett des todwunden Werthers und ihr Geständnis „Et Werther moi je t’aime!“ verfehlen ihre Wirkung nicht, was bei der leidenschaftlichen, packenden Musik Massenets und der dramaturgischen Finesse der letzten Szene – Werther stirbt in ihren Armen, mit „Non … Charlotte … je meurs“ auf seinen Lippen, während im Hintergrund die Kinder der Opernschule ihre nervenden „Noel-Noel“-Rufe erklungen lassen und Albert stumm und scheinbar unbeteiligt, imnerlich aber kochend vor Wut dasteht –  freilich kein Wunder ist.

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Attila Mokus Rollendebüt als Albert.

Der Bariton Attila Mokus ist ein hölzern wirkender Albert, der aber in seinem Innersten geheime Züge versteckt hat und alsbald argwöhnisch auf der Lauer ist. Als er erkennt, dass seine Frau mehr mit Werther verbindet, als ihm recht ist, offenbart sich seine Eifersucht in sadistischen Aktionen. Sein Auftritt bei der Rückkehr von einer Geschäftsreise, mit einer riesengroßen indianischen Federkrone auf dem Haupt, wirkt grotesk, wäre heute aber ohnehin als politisch inkorrekte „Aneignung“ verpönt. An die Leistung von Adrian Eröd in dieser Rolle und in dieser Produktion kommt das Ensemblemitglied bei seinem Rollendebüt jedenfalls (noch) nicht heran.

Marcus Pelz debütiert als sympathischer, nicht sehr autoritär wirkender Le Bailli (Amtmann), in seinem Schlepptau finden sich Andrea Giovannini als Schmidt, ebenfalls Ensemblemitglied, und Jack Lee aus dem Opernstudio als Johann.

Angemessener Applaus im Rahmen der üblichen fünf Minuten, und zwei enthusiastische Bravorufer im nicht ganz ausverkauften Haus. Wann gibt es wieder eine Aufführung in der Baritonfassung? Ludovic Teziers wunderbarer Werther 2012 ist noch immer unvergessen.

 

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