WIEN / Staatsoper: „WERTHER“ – 20.01.2022
Slávka Zámečníková (Sophie). Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Im Jahr 2005 hat der damalige Staatsoperndirektor Ioan Holender bedauerlicherweise die wunderschöne „Werther“-Inszenierung von Pier Luigi Samaritani durch eine Neuinszenierung von Andrei Șerban ersetzen lassen. Mir hat diese Neuproduktion nie gefallen, auch wenn man bereits kurz nach der Premiere die gröbsten Unsinnigkeiten weggelassen hat. Die Verlegung der Handlung in die Fünfziger- oder Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts bringt gar nichts, im Gegenteil. Welcher junge Mann hätte damals vom Ehemann seiner Angebeteten die Duellpistolen (!!!!), die übrigens unversperrt in einem Zimmer herumliegen, in dem ein geschmückter Christbaum steht und um ihn herum Weihnachtsgeschenke für Kinder liegen, für einen Selbstmord verlangt? Er hätte sich wohl eher wie James Dean in einen Sportwagen gesetzt und wäre aufs Gaspedal gestiegen. Und Musiker, denen in einem Biergarten die Kellnerin Biergläser serviert, die nur zu einem Fünftel gefüllt sind, würden protestieren oder der Kellnerin das Bier ins Gesicht schütten. Wie auch immer, wir haben gelernt mit dieser Inszenierung zu leben und man muss ja heute schon froh sein, wenn es nicht ganz so schlimm ist wie gerade eben bei der Neuinszenierung der „Tosca“ im Theater an der Wien.
In dieser Aufführungsserie hat Juan Diego Flórez erstmals in Wien die Titelrolle gesungen. Meines Wissens nach sang er diese Partie erstmals konzertant am Théâtre des Champs-Élysées in Paris 2016 und dann szenisch erstmals ein Jahr später in Bologna. Das Stimmvolumen von Juan Diego Flórez hat jedoch in den letzten 25 Jahren kaum zugelegt. Er ist nach wie vor einer der besten Vertreter des Faches „tenore di grazia“, dennoch versucht er derzeit einen Fachwechsel vorzunehmen. Warum nimmt er eigentlich keine Mozart-Partien in sein Repertoire auf? Der Don Ottavio müsste ihm doch ganz besonders gut liegen. Der Werther ist für ihn jedoch eine absolute Fachgrenze, und er sollte diese Partie, wenn überhaupt, nur an kleinen Häusern singen. Flórez hat sich zwar an diesem Abend (gegenüber der Vorstellung vom 15.1.) gesteigert, vor allem im ersten Akt war er diesmal viel besser, aber mit dem dramatischen 2. Akt und mit gewissen Stellen im 3. Akt ist er völlig überfordert, zumindest an einem großen Opernhaus wie der Wiener Staatsoper. Auf der Galerie hat man über weite Strecken von ihm nichts gehört, obwohl der Dirigent Giacomo Sagripanti so oft wie möglich versucht hat, die Lautstärke des Orchesters herunterzufahren bzw. zu dämpfen. In den lyrischen Stellen bezaubert Flórez natürlich mit zartesten Piani und schöner Phrasierung, aber sobald er gegen die Klangmassen des Orchesters ansingen muss, geht die Stimme völlig unter. Verstärkt wurde das Ganze auch noch dadurch, dass die kanadische Mezzosopranistin Julie Boulianne, die ursprünglich seine Partnerin hätte sein sollen, an Covid erkrankt ist und durch Clémentine Margaine ersetzt wurde, die eine gefühlt ungefähr zwei- bis dreimal so große Stimme besitzt als Flórez und diesen in den gemeinsamen Szenen regelrecht an die Wand sang. Julie Boulianne hätte mit ihrer feineren und lyrischeren Stimme sicher viel besser zu Flórez gepasst.
So wurde der Abend vor allem von Clémentine Margaine getragen, die mit ihrer dunkel gefärbten Stimme, breiter Mittellage und satter Tiefe eine ganz wundervolle Charlotte sang. Sie hätte aber mit ihrer mächtigen Stimme viel eher zu Roberto Alagna oder Marcelo Álvarez gepasst. Aber man muss ja glücklich und froh sein, dass man in den unsicheren Covid-Zeiten überhaupt so einen tollen Ersatz bekommt.
Étienne Dupuis erweist sich als großer Gewinn für das Haus. Mit seinem kräftigen, etwas rauen Bariton war er stimmlich ein idealer Albert. In der Darstellung kann er mit einigen Vorgängern jedoch (noch) nicht mithalten. Und Slávka Zámečníková bezauberte als Sophie mit ihrem klaren, glockenreinen Sopran das Wiener Publikum aufs Neue. Hans Peter Kammerer hatte als Bailli große Mühe die laut plärrenden Kinder in Zaum zu halten. Andrea Giovannini als Schmidt und Michael Arivony als Johann ergänzten die Besetzung zufriedenstellend.
Beim kurzen Schlussapplaus erhielt Clémentine Margaine zu Recht den stärksten Zuspruch. Die Staatsoperndirektion könnte ja dem in Wien lebenden Tenor entgegenkommen und eine der vielen Opern ins Repertoire nehmen, in denen es eine ideale Rolle für ihn gibt (z.B. „Le Comte Ory“, „Mathilde di Shabran“ oder „Otello“ von Rossini). Als Werther ist er jedoch nicht ideal besetzt.
Walter Nowotny
Schlussapplaus
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