29.09.2022: „VON DER LIEBE TOD“ („Das klagende Lied“/„Kindertotenlieder“)
Daniel Jenz, Florian Boesch und Chor. Foto: Wiener Staatsoper/MichaelPöhn
Die Vorfreude auf diesen Homunculus trübte sich schon vor Wochen, als es aus den Mauern der Wiener Staatsoper, kundgetan in Dramaturgentexten, dann auf Plakaten, schließlich in Worten des Direktors Bogdan Roščić selbst, von Gustav Mahlers „nie geschriebener Oper“ zu orakeln begann, die man sich mit dieser Neuproduktion nun erträumen könne. Autsch. Man muss nicht gehässig sein wie der Blogger Norman Lebrecht, der dem Haus am Ring offenbar prinzipiell übelwill, um das als höchst fragwürdiges Versprechen zu empfinden, mit dem man sich das Scheitern quasi frei Haus holt, indem man, mit Hugo von Hofmannsthal gesprochen, „was nicht deutbar, dennoch deutet“.
Ehrlicher wäre es gewesen, zu sagen, hier tanze man nach Regisseurs Pfeife: Zwar geht aus dem Abend kein überzeugender Grund hervor, der Calixto Bieito zur Paarung von Mahlers Frühwerk „Das klagende Lied“ mit den archaisch-abgeklärten „Kindertotenliedern“ veranlasst haben könnte, doch was kann die Kreation anderes sein als ein Kopfkind jenes Regisseurs, der nach „Tristan und Isolde“ im April offenbar noch nicht genug davon hat, den darin doch notorisch kundigen Wienern eins über die Heirat von Liebe und Tod zu blasen? Indes: Kann sein, dass er inzwischen sogar mehr als genug davon hat, denn was man sah, war dünn, wenn nicht ärgerlich. Dass man also viel eher trotz als wegen Bieito kommen sollte, leuchtet zwar mindestens jedem ein, der sich schon mit dem so selten gespielten „Klagenden Lied“ befasst hat, stößt angesichts dessen, dass man sich hier mit einem Konzept aus Disparatem brüstet, aber doch ein wenig sauer auf.
© Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
In die krude, dann wieder bemüht zärtlich aufgerollte, in eine klinisch denaturierte, nur mehr von weiß gekleideten Menschen bevölkerte Welt versetzte Märchengeschichte vom jungen Mann, der seinen Bruder ermordet, um statt seiner der Königin die rote Blume zu reichen, für die sie ihre Hand ausgelobt hat, mengt Bieito den die Handlung kommentierenden Chor als hysterische Masse, die aufgescheucht ist von der Angst jedes Einzelnen, dass die Leichen im eigenen Keller entdeckt werden könnten. Für dieses Verdrängte oder Geheime stehen wohl die Wurzeln jener alten Weide, die von der Decke hängen und an die sich alle klammern: nur dass es nichtssagende, ja geschmacksfremde bunte Plastikschläuche sind. Was dachten sich Rebecca Ringst (Bühne) und Ingo Krügler (Kostüme) wohl dabei, so gegen jeden Kunstverstand tätig zu werden? Das Licht (Michael Bauer) folgt den Leuten vorwiegend kegelförmig. Vage scheint es auch um die Natur in einer naturfernen Welt zu gehen: Am Anfang sieht man lauter in Plastik gehüllte Bäume, und der Brudermord geschieht offenbar im Streit um einen zierlichen Blumenstock, den die beiden mit ein wenig aufgeschütteter Erde (auch sie kommt aus der Verpackung) pflanzen. Den Part der Knochenflöte singen die Kinder Jonathan Mertl (leider schwach, besonders in der tiefen Lage) und Johannes Pietsch (mit tragender, ,weißlich‘ neutraler Höhe, in der Schlussanklage auch zum Outrieren ermutigt), die sich an die Rampe stellen und dadurch schon zu den anklagenden Nachgeborenen werden (zwar kurzzeitig wirkungsvoll, aber auch wohlfeil): Dem einen fehlt eine Hand, der andere wird zum Schluss in weißen Stoff verpuppt und zum Trauerfall der „Kindertotenlieder“, zu denen er die meiste Zeit am Boden liegt, während die Mutter Bruchstücke des Wurzelwerks einsammelt und andere Kinder die Wände (nun in abermals ausgesucht nichtssagender Aluverkleidung) bemalen: mit harmlosen Gesichtern, aber auch einem schemenhaften Sensenmann. Allzu wenig Absicht scheint hier auf, und das verstimmt. Sind die beiden Buben auch Brüder? Wo bleibt dann der andere im zweiten Teil, wenn der eine gestorben ist? Keine Trauer mehr, wo sich der Tote, einst Vitale doch für ihn einsetzte und um seinetwillen kräftig hinausschrie? Rächt sich gar der Benachteiligte, Verstümmelte? „Du hast mich ja erschlagen“? Alles wieder von vorne?
Dass der Abend unausgegoren klafft, liegt hintersinnig auch an Lorenzo Viotti am Pult: Er zelebriert wattigen Mischklang, schleift mit elegant ausladender Gestik Ecken und Kanten an Übergängen zu Rundungen, glättet Stromschnellen zu beinah sanften Wogen, spornt das Kollektiv zu Hymnus oder dunkler Klage an, aber entdeckt nichts Gebrochenes oder Drastisches. Zwar dröhnt das überladene Werk bisweilen von selbst verstörend, aber wo ist nur eine Ahnung jener Knochigkeit, die schon aufgrund des Sujets geboten sein könnte? Es tönt üppig, ja herrlich (auch der gar nicht so reichlich besetzte, wegen seiner Position manchmal etwas späte, von Thomas Lang präparierte Staatsopernchor), aber wenig interessant, auch nicht mit der wahrhaft berauschenden Verve, die der schon damals nicht mehr so junge Michael Gielen mit dem Wiener Radio-Symphonieorchester zu entfachen verstand (Live-Mitschnitt bei Orfeo). Freilich, die Wiener Philharmoniker (bzw. das Staatsopernorchester) sind manchmal eine trotzige Schöne, deren Gunst man sich erst, wer weiß wie, erobern muss, und sie zeigten an diesem Abend auch großzügig ihre Reize her: So riskierten die Hörner anfangs mit dem Wagnis, sich zugleich möglichst in die Klangfläche zu betten und durch Pointierung doch abzuheben, immerhin die saubere Intonation – sonst aber schien fast nichts den Musikern auch nur ein bisschen unbequem, der Erkundung wert, obwohl – oder weil? – sie das Werk, zumindest die zwei Sätze der späteren Fassung, erst 2011 mit Pierre Boulez gespielt haben.
Wer die Vorstellung in raren Momenten expressiv doch noch zum unberechenbaren Ereignis machte, ist der späte Hausdebütant Florian Boesch: Was er aus seinem körnigen, nicht sehr profunden, für ein Haus dieser Größe auch eher zu intimen Mischinstrument aus Bass und Bariton an welthaltigem Ausdruck herausholt, macht ihm derzeit keiner nach. Im quälend langsam (sozusagen „wie ein Kondukt“) gespielten ersten Kindertotenlied („Nun will die Sonn’ so hell aufgeh’n“), das fast unmittelbar auf den schockhaften Schlussakkord des „Klagenden Lieds folgt“, formt er keine Bögen auf langem Atem, sondern reiht die Wortgruppen wie Gestammel aneinander, in den ersten und letzten Zeilen verhalten wie kurz vor dem völligen Verstummen, dazwischen schroff hinausdeklamierend; und wie er den Epilog („wie ein Wiegenlied“) des letzten („In diesem Wetter, in diesem Braus“) schier jeden Affektes nackt (wie auch immer das geht) gleich einem engelshaften Erzähler mit streichelnder Kopfstimme von der Rampe ins Publikum schickte, das machte fassungslos – und zeigte so eindringlich wie nur je, warum Simon Rattle diesen Mann in scheinbarer Untertreibung, die doch das höchste Kompliment einschließt, „the master of storytelling“ nannte. Neben ihm können sich Vera-Lotte Boecker (etwas schrill und unstet) und Daniel Jenz (starr und wenig kantabel, außerdem nach unten kaum gestützt) nicht, selbst Tanja Ariane Baumgartner kaum behaupten, die zwar eine schöne Höhe besitzt, zu der sie aber etwas brüchig überleitet, der es jedoch vor allem am so ersehnten Brustton des Mütterlichen fehlt.
Gregor Schima