Benedikt Kobel, Anna Smirnova.Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
WIEN / Staatsoper: Turandot von Giacomo Puccini
16. Aufführung in dieser Inszenierung
6. April 2019
Eine Parforcejagd – an die Grenzen und darüber hinaus
Ein Abend der Grenzüberschreitungen. Es beginnt schon mit der Partitur. In seiner zwölften und letzten Oper steigert Puccini alles ins Monumentale: Grand Opera, vermischt mit exotisierender Operettenhaftigkeit. Das Orchester so groß bestückt wie nie zuvor, gewaltige Massenszenen und Schwierigkeiten mit der dramaturgischen Anlage des Schlusses. Schließlich kommt ihm bei der Arbeit der eigene Tod in die Quere: Das Werk bleibt unvollendet, und mit der Komplettierung beauftragte Franco Alfano kann angesichts des Genies des Komponisten wohl nur – in Ehren – scheitern.
Turandot auf die Bühne zu bringen, ist keine geringe Herausforderung: Traut man sich noch, klischeehaft-kitschige Chinarestaurant-Elemente ins in Bühnenbild und Ausstattung einfließen zu lassen, oder wagt man einen mutigen Schritt in inszenatorisches Neuland? Marco Arturo Marelli setzt in seiner Inszenierung aus dem Jahr 2016 auf einen Kompromiss: Im Vordergrund gibt es die üblichen fernöstlichen Versatzstücke, im Hintergrund sind abwechselnd Puccinis Komponierschreibtisch und ein imaginierter Zuschauerraum, in dem sich der Chor – kostümiert im Stil der 20er Jahre – niedergelassen hat, zu sehen. Eine Verschränkung der Realitätsebenen wohl.
Die Klangmassen, die es zu meistern gilt, sind dem Dirigenten Domingo Hindoyan am Pult des Staatsopernorchesters anvertraut. Der aus Venezuela gebürtige, ehemalige Assistent Daniel Barenboims an der Berliner Staatsoper setzt bei seinem Wiener Debüt auf mächtige Klangentfaltung, wie man sie aus Hollywood-Filmmusiken zu Fantasy-Filmen kennt. Das, was aus dem Orchestergraben kommt, ist vor allem laut und fordert so nicht nur die Sängerinnen und Sänger oft zu übermäßigem Forcieren auf, sondern überschreitet – zumindest für sensible Ohren auf den Rängen der Galerie-Seite – zum Teil bereits die Schmerzgrenze. Differenziert wird wenig, die exquisiten Feinheiten der Orchestrierung, die es zuhauf auch gibt, bleiben außen vor. Im Vergleich zu Gustavo Dudamel, dem Dirigenten der Premiere vor drei Jahren, kommt man also gewissermaßen vom Regen in die Traufe.
Puccinis Abschlusswerk fordert auch das Sängerensemble zu Höchstleistungen. Vor allem die Titelpartie gehört zu den schwierigsten im Sopranfach. Es gibt wohl keine Sängerin, die dabei nicht an die Grenzen ihrer Stimme gehen muss. Warum ausgerechnet eine als Eboli, Amneris, Azucena und Ortrud bewährte Mezzosopranistin, die sich in letzter Zeit allerdings dem dramatischen Sopranfach zugewandt und bereits die Walküren-Brünhild gesungen hat, sich das antut, ist nicht ganz nachzuvollziehen. An das ausgeprägte Vibrato von Anna Smirnova kann man sich gewöhnen, sie singt kraftvoll und mit starker Leidenschaft. Sie hat bei ihrem Wiener Rollendebüt kein Problem, den Chor und das Orchester zu überstrahlen, doch ihre Stimme wirkt dann gepresst bis schrill. Ihre emotionale Annäherung an Calaf, nachdem das große – auch gesangliche – Kräftemessen zu Ende gegangen ist, zeigt aber, dass sie durchaus auch frei und leicht singen zu singen vermag, wenn sie nicht zum Forcieren genötigt wird. Die plötzlich entdeckte große Liebe aber nimmt man beiden nicht ab.
Mit dem koreanischen Tenor Alfred Kim in der Partie ihres Herausforderers und Bezwingers Calaf ist ebenfalls ein Rollendebütant zu erleben. Er steht ihr um nichts nach und kennt auch stimmlich keine Schonung. Dafür braucht man einen Heldentenor, der drei Akte lang durchhält und sich nicht allein auf das effektvolle „Nessun dorma“ konzentriert. Letzteres mag, von einem lyrischen Tenor mit warmem Timbre gesungen, romantischer klingen; Kims kraftvoller Tenor mit großer Stimme und solider Technik passt dafür gut zum macht- und selbstbewussten tartarischen Prinzen. Seine Arie „Non piangere, Liu“ klingt noch recht nachdenklich, doch je mehr der Dirigent Hindoyan im weiteren Verlauf den Lautstärkeregler voll aufdreht, umso mehr muss er auf stimmliche Kraftentfaltung setzten. Das hohe „h“ bereitet ihm keinerlei Schwierigkeiten, im tieferen Register wirkt er zuweilen etwas rau. Alles in allem ein robuster Calaf, kein Ausbund an Charme, vielmehr ist und bleibt auch er eiskalt wie die Turandot.
Dinara Alieva. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Wie so oft, ist auch in dieser Inszenierung Liu der sympathische Lichtblick. Die Rollendebütantin Dinara Alieva hat einen feinen, lieblichen Sopran, der auch starke Gefühle – wie in „Signore, ascolta!“ – vermittelt und engelsgleich zu berühren weiß. Ihre opferbereite Schlussarie „Tu che di gel sei cinta“ bleibt lange haften. Nicht nur, weil es die letzten Noten sind, die der sterbenskranke Puccini niedergeschrieben hat.
Benedikt Kobel schafft es, der Figur des Vaters von Turandot eine Stimme zu verleihen, die ebenso gebrechlich ist wie der hier an einem Rollstuhl gefesselte Altoum. Der in der Regel stets verlässliche Tenor zeigt sich diesmal leider überfordert. Gewohnt rollendeckend der bewährte Bass Dan Paul Dumitrescu in der Partie des Timur, Paolo Rumetz wirkt als ein nicht weiter auffallender Mandarin. Nicht ganz homogen die Besetzung der drei für komischen Einlagen sorgenden Minister Ping, Pang und Pong: Während Samuel Hasselhorn als Rollendebütant mit seinem modulationsfähigen Bariton aufhorchen lässt und der Tenor Jinxu Xiahou ihm spielfreudig assistiert, agiert Leonardo Navarro eher unauffällig.
Der Schlussapplaus wirkt recht zufrieden und animiert, hält aber nicht allzu lang an. Am meisten Beifall gibt es für die Liu von Dinara Alieva, die – ebenso wie Calaf Alfred Kim – schon zuvor mit Szenenapplaus bedacht worden ist. Der – erwartete – Beifall für „Nessun dorma“ ertönte übrigens viel zu früh, voll in das Orchesternachspiel hinein. Noch ist es nicht so schlimm wie bei Popkonzerten, wo man – aus Freude darüber, dass man ein Lied erkannt hat – ja schon klatscht, sobald die ersten Töne erklingen. Aber ich fürchte, dazu könnte es in der Oper auch noch kommen. Insbesondere bei einem Hit wie diesem, den – Andrea Bocelli und Paul Potts sei Dank – inzwischen wirklich jeder kennt.
Manfred A. Schmid