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WIEN / Staatsoper: TURANDOT

Die Principessa auf der Flucht aus dem Käfig der Vergangenheit

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Asmik Grigorian (Turandot) und Ensemble. Alle Fotos: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper: TURANDOT

8. Aufführung in dieser Inszenierung

4. Juni 2024

Von Manfred A. Schmid

Puccinis Turandot ist in Claus Guths Inszenierung weder ein Märchen noch ein aufwändig ausgestattetes chinesisches Historienspektakel, sondern ein auf Kammerspieldimension getrimmtes Psychodrama, in dessen Mittepunkt die Kaisertochter Turandot steht, die der Männerwelt mit traumatischer Feindseligkeit begegnet und jeden, der sie begehrt, lieber tot als an ihrer Seite sehen will. Ein männermordendes Ungeheuer und obendrein schön, reich und mächtig, weshalb die Werber um ihre Gunst, trotz der trüben Aussichten, Schlange stehen und vom Scharfrichter am Fließband um einen Kopf kürzer gemacht werden. Als Grund für ihr Verhalten beruft sie sich auf das grausame Schicksal, das einer Urahnin vor Jahrtausenden widerfahren sein soll. So weit, so guth. Ist aber schon bei der Premiere im Dezember des Vorjahres nicht bei allen gut angekommen.

Der Idee, auf monumentalen exotischen Firlefanz radikal zu verzichten, lässt sich aber durchaus einiges abgewinnen. Es ist die Umsetzung, die zu wünschen übriglässt, wie auch diese Aufführungsserie – besucht wird die zweite Vorstellung – erneut bestätigt. Denn den zweiten Akt mit dem großen Rätselraten ausgerechnet im Schlafzimmer Turandots stattfinden zu lassen, entpuppt sich als widersinnig. Der Einsatz von Chor und Kinderchor und die Anwesenheit des gesamten Hofstaats lassen eher darauf schließen, dass es sich dabei um einen feierlichen Staatsakt handelnd dürfte. Und ein solcher wird eben nicht in einem Schlafzimmer abgehalten. Und wenn Turandot dabei im Bett liegt und von vier Damen mit riesengroßen weißen, archaischen Köpfen, wohl die Schutzgeister aus der noch immer sehr gegenwärtigen Vergangenheit, bewacht wird, büßt sie an Dynamik und Agilität allzu viel ein. Ein Glück, dass Asmik Grigorian, die schon in der Premierenbesetzung die Titelfigur war, auch darstellerisch so präsent ist, dass sie dieses Manko spielend wettmachen kann. Ihre Stimme, mit einer starken Grundierung in der Tiefe, einem breiten Spektrum an Klangfarben, Textur und Volumen, strahlt schon in „In questa reggia“ grausame Entschlossenheit aus, der aber von Anfang an ein Quäntchen Angst beigemischt ist. Angst vor Veränderung, Angst davor, die Oberhand zu verlieren, Angst, aus der blutrünstigen Routine herausgerissen zu werden, was sich auch in den extremen Tonsprüngen niederschlägt, die die keine Herausforderung scheuende Sängerin mit Bravour meistert. Aber gerade das passiert dann am Schluss tatsächlich, mit dem Kuss Calafs, der sie mit einem Mal in eine neue, ungeahnte und unbekannte Bahn schleudert: In den Rausch der Liebe. Grigorian ist eine exzellente Turandot, weil sie diese beiden Momente, die das Wesen der Eisprinzessin, die zum Schmelzen gebracht wird, ausmachen, glaubhaft aufblitzen lässt: Wilde Entschlossenheit, besser vielleicht: Getriebenheit, und verdrängte Angst.

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Kristina Mkhitaryan (Liù) und Ensemble.

Es ist bekannt, dass Puccini mit dem Schluss der Oper zu kämpfen hatte und diesen auch nicht mehr fertigstellen konnte. Ob es tatsächlich zu einem Happyend gekommen wäre, wie es dann von Alfano, auf Basis der ihm vom Komponisten hinterlassenen Skizzen, durchgeführt wurde, muss offenbleiben. Die plötzliche Wandlung Turandots durch den Kuss ist jedenfalls nicht sehr plausibel, zudem scheint auch die Entwicklung der beiden darin involvierten Charaktere noch nicht so weit gediehen zu sein, um ihnen diese überraschende neue Qualität in ihrer Beziehung einfach abnehmen zu können. Besonders die Liebesfähigkeit Turandots bleibt bis zuletzt mehr als fragwürdig. Durchaus möglich, dass bei Puccini letztendlich einer der beiden gestorben wäre. Vielleicht aber hätte es auch – der Komponist hat in seinem letzten Werk viele neue Wege eingeschlagen – ein an Wagners Tristan und Isolde gemahnendes, langes Schluss-Duett gegeben. Wir werden es nie wissen. Der Regisseur Claus Guth meldet ebenfalls Zweifel am vorliegenden Ausgang der Geschichte an, wenn er seine Inszenierung damit enden lässt, dass das junge Paar, als es vom Volk bejubelt und gefeiert wird, auf Initiative von Turandot, die Calaf bei der Hand nimmt und mit sich zieht, einfach die Flucht ergreift und aus der Routine, dem traditionellen Zeremoniell und dem Zwang der Geschichte ausbricht. Nur vorübergehend oder ist es ein Neuanfang für immer? Auch diese Frage bleibt offen, und das gehört eindeutig zu den Stärken dieser Inszenierung.

Das Letzte, was aus der Feder Puccinis stammt, ist Liùs Selbstmord-Szene und die Musik, die den Abgang Timurs begleitet. Somit ist von den drei zentralen Figuren der Handlung Liù die einzige die er fertiggestellt und für abgeschlossen erachtet hat. Man kann davon ausgehen, dass die sich aus Liebe zu Calaf auch für die Principessa aufopfernde Frau diejenige ist, die am weitesten entwickelt ist. Kristina Mkhitaryan ist schon in der Premiere eine berührende, anrührende Liù gewesen und bekommt auch diesmal für ihr ergreifend gestaltetes „Signore ascolta“ begeisterten Szenenapplaus.

Was der Kuss bei Turandot auslöst, die Liebe, ist bei Calaf der Augenblick, als er zum ersten Mal der Prinzessin gegenübertritt: Liebe auf den ersten Blick. Der aus Nordsibirien stammende Ivan Gyngazov ist ein höhensicherer Calaf, mit einem heldisch-metallischen Tenor und, vor allem im letzten Akt, auch darstellerisch durchaus ansprechend. Sein „Nessun dorma“ wird euphorisch bejubelt und kommt schon sehr nahe an ein Da-capo-Ereignis heran. Letzteres vor allem wohl deshalb, weil alle auf diese Arie gewartet und sie gleich erkannt haben, so dass sich so gut wie jeder als Opernkenner fühlen kann.

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Ivan Gyngazov (Calag) und Asmik Grigorian (Turandot)

Dan Paul Dumitrescus Timur ist körperlich zwar hinfällig, fordert aber mit weiterhin mächtiger Stimme Respekt ein. Auch die Besetzungen des spiel- und singfreudigen Commedia dell`arte-Trios Ping (Martin Hässler), Pang (Norbert Ernst) und Pong (Hiroshi Amako), das an die Spaßmacher-Truppe in Ariadne auf Naxos von Richard Strauss erinnert, kommt aus dem Haus und bewährt sich erneut. Im polizeistaatlich geführten Land treten sie frivol, verspielt, aber auch brutal in Erscheinung, wenn sie etwa mit abgeschlagenen Köpfen Ping-Pong speilen, und träumen in „Ho una casa nell’Honan“ („Ich habe ein Haus in Honan“) von einem idyllischen Leben auf dem Land, fernab vom gestressten, penibel reglementierten Alltag am Kaiserhof.

Ensemblemitglied Attila Mokus hat zwei markante Auftritte als Mandarin, der sich, Aufmerksamkeit heischend, an das Volk wendet. Sein Tenorkollege Jörg Schneider ist ein um die Zukunft seiner Tochter und damit auch seines Landes besorgter Kaiser Altoum, der deshalb endlich einen Schwiegersohn haben will.

Die anspruchsvolle Partitur, in der Puccini am fortschrittlichsten ist und neben pentatonischen Klängen auch polytonale Strukturen verwendet, wird vom Staatsopernorchester unter der Leitung von Axel Kober effektvoll zum Klingen gebracht. Für impressionistisch-exotische Stimmungen sorgen Solobläser, eine große Schlagzeuggruppe, einschließlich eines riesigen Tam-Tams, sowie chinesische Gongs. Die reiche Palette an Farben und subtilen Schattierungen liefert das, was in der Inszenierung bewusst ausgespart wird. Auf den China-Kitsch einschlägiger Restaurants verzichtet man daher gerne. Auffallend auch Kobers Sinn für Details sowie für den oft eingesetzten großen Chor auf der Bühne wie auch für den Kinderchor der Opernschule. Welche Aufgabe das ebenfalls auf der Besetzungsliste angeführte Europaballett St. Pölten zu erfüllen hat, will sich nicht so recht erschließen. Erwähnenswert Choreographisches drängt sich jedenfalls nicht auf.

Euphorischer Beifall, der, wie es inzwischen üblich ist, nach fünf Minuten verebbt, was diesmal freilich auch daran liegen könnte, dass den Ohren der Touristen und  Gelegenheitsbesucher zwar viel, den Augen aber gar zu wenig dargeboten wird.

 

 

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