WIEN / Staatsoper: „THEIR MASTER’S VOICE“ – 10.7.2024
Foto: Marco Borrelli
Im 18. und 19. Jahrhundert war das Pasticcio sehr populär. Ein Pasticcio ist eine Oper oder ein musikalisches Werk, das aus bereits existierender Musik verschiedener Komponisten oder aus verschiedenen Werken eines Komponisten zusammengestellt ist. Als Textgrundlage diente entweder ein schon vorhandenes Libretto, das entsprechend zurechtgeschneidert wurde, oder ein Librettist musste eine neue Handlung um die ausgewählten Musikstücke herum erfinden. In einer Zeit, in der das Copyright noch nicht existierte, war dies einfach möglich. In unserer Zeit sind solche Pasticci eher selten, aber „Ombra Felice“ bei den Salzburger Festspielen 1984, „The Enchanted Island“ an der Metropolitan Opera 2011 und zuletzt „Une folle journée“ bei den diesjährigen Salzburger Pfingstfestspielen sind gute Beispiele für erfolgreiche Pasticci der jüngeren Vergangenheit.
Der österreichische Regisseur und Autor Michael Sturminger hat für das Opernhaus von Monte-Carlo ein Libretto für ein Gender-Duell zwischen John Malkovich und Cecilia Bartoli verfasst und dafür Kompositionen von Antonio Vivaldi, Giovanni Battista Pergolesi, Georg Friedrich Händel, Agostino Steffani und Claudio Monteverdi zusammengestellt. Michael Sturminger hat bereits mehrmals mit John Malkovich zusammengearbeitet („The Infernal Comedy“ 2008, „Casanova Variations“ 2013, „The Infernal Comedy“ 2022). In „Their Master’s Voice“, uraufgeführt im April 2024 in Monaco, versucht der gealterte Counter-Tenor Jeff Himmelhoch verzweifelt ein Comeback. Er behauptet die Memoiren Farinellis in einem Antiquariat in Madrid entdeckt zu haben und will nun die Lebensgeschichte des berühmten Kastraten auf die Bühne eines kleinen Theaters bringen. Darin wird u.a. das Leid beschrieben, das man den Knaben mit schönen Stimmen angetan hat, indem man sie kastriert hat, damit sie ihre reinen Gesangsstimmen behalten. Himmelhoch träumt davon wie in Barockzeiten in einem Wolkenwagen als Jupiter vom Bühnenhimmel herabzuschweben. Die Regieassistentin Rosie Blackwell erklärt ihm, dass das Theater dafür leider kein Budget hat. Einen Countertenor für die Aufführung hat man schon gefunden, den jungen Lukas Dahlberg. Was noch fehlt ist eine Mezzosopranistin. Glücklicherweise gibt es in diesem Theater eine Putzfrau, die nur auf eine Gelegenheit wartet (so etwas soll ja sogar schon in Russland vorgekommen sein). Somit erhält Maddalena Cigno die Chance, in der Produktion mitzuspielen. Wir erleben die ersten Erfolge Farinellis als Knabensopran, die schreckliche Situation, als man der Mutter den Sohn wegnimmt, um ihn kastrieren zu lassen, wie ihn sein Lehrer Porpora quält und züchtigt, wie Farinelli zum großen Gesangsstar aufsteigt. Am Ende gesteht Himmelhoch, dass er gar nicht die Memoiren Farinellis gefunden hat, er wollte nur noch einmal auf der Bühne stehen…
Farinelli hieß eigentlich Carlo Broschi, wurde 1705 im Königreich Neapel geboren, stammte aus einer adeligen Familie und wurde Privatschüler des Komponisten Nicola Porpora, von dem er eine ungewöhnlich virtuose Atem- und Gesangstechnik lernte. Farinelli war so etwas wie ein Superstar der damaligen Opernszene, seine Popularität kann man wahrscheinlich eher mit der eines Popstars von heute vergleichen. Er sorgte in ganz Europa für Furore, es gibt sogar Berichte, dass manche Damen bei seinem Gesang in Ohnmacht gefallen sein sollen. Am Höhepunkt seiner Karriere – mit erst 32 Jahren – beendete er seine Bühnenkarriere, weil ihn die spanische Königin Elisabetta Farnese engagierte, um ihren depressiven Ehemann Philipp V. jeden Abend die gleichen Arien vorzusingen. Das tat er neun Jahre lang, bis zum Tod des Königs. Farinelli erlangte dadurch große politische Macht und blieb in Spanien auch unter König Ferdinand VI. eine einflussreiche Persönlichkeit. Erst als Karl III. 1759 den Thron bestieg, verließ Farinelli Spanien und ließ sich schwerreich in Bologna nieder, wo er mit vielen Musikern Kontakt hatte, unter anderem besuchten ihn Gluck und Mozart. 1782 starb Farinelli in Bologna.
Zwei Sänger und zwei Schauspieler bestritten diese Aufführung. Gleich zu Beginn begeisterte der 38jährige Countertenor Philipp Mathmann als jugendlicher Farinelli mit glockenreinen Soprantönen in Pergolesis Confessio (Confitebor tibi domine). Die Vita dieses Sängers ist wirklich erstaunlich, er ist nicht nur Countertenor, sondern auch noch Arzt und dazu noch politisch tätig.
Gleich darauf folgte der musikalische Höhepunkt des Abends. Die Trauer der Mutter, dass man ihr den Sohn wegnimmt, besang Cecilia Bartoli in der Arie „Gelido in ogni vena“ aus Vivaldis Oper „Il farnace“. Da blieb einem fast der Atem stehen. Später sorgte Bartoli mit der empfindsam vorgetragenen Arie „Lascia la spina“ aus „Il trionfo del tempo e del disinganno“ von Händel noch für einen weiteren Höhepunkt.
Neben den beiden Sängern konnte diesmal auch der Chor der Oper von Monte-Carlo (Einstudierung: Stefano Visconti), der in „Giulio Cesare in Egitto“ ja unterfordert war, glänzen. Am Pult von Les Musiciens du Prince – Monaco stand wieder Gianluca Capuano.
Die Spielhandlung wurde von dem beeindruckenden John Malkovich als Jeff Himmelhoch und Emily Cox als Regieassistentin Rosie Blackwell überzeugend gespielt.
Michael Sturminger führte auch selbst Regie. Die leere Bühne wurde mit wunderbaren Projektionen und wenigen erforderlichen Requisiten geschickt genützt (Bühne, Video & Kostüme: Renate Martin & Andreas Donhauser, Licht: Benoit Vigan).
Als am Ende Himmelhoch gestanden hat, das alles nur erfunden zu haben, um noch einmal im Mittelpunkt zu stehen, sang John Malkovich im Abgehen mit krächzender Stimme gemeinsam mit Cecilia Bartoli das Schlussduett „Pur ti miro“ aus Monteverdis „L‘incoronazione di Poppea“. Ein unglaublich berührendes Finale.
Einzelne Buhs, die sich gegen das Regieteam gerichtet haben, gingen im lautstarken Jubel unter. Ein wunderschöner, poetischer, berührender Opernabend. Und eine gute Einstimmung auf das am nächsten Abend stattfindende Galakonzert, das Farinelli und seinen Freunden gewidmet war.
Walter Nowotny