Alle Fotos: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
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CARMEN von Georges Bizet
Premiere: 21. Februar 2021
Nicht, dass man die „Carmen“-Inszenierung des Calixto Bieito nicht kennen würde. Schließlich hat sie schon 22 Jahre auf dem Buckel, da muss sie einem interessierten Opernfreund schon begegnet sein. Oder auch mehrmals – auf der DVD mit Béatrice Uria-Monzon aus Barcelona, auf YouTube aus Venedig, und die Pariser Oper hat einmal ihre Aufführung mit der Garanca gestreamt. Also olle Kamellen? Na ja, immerhin eine Produktion, die schon das Lob ernten konnte, „fulminant“ und ein „Klassiker“ zu sein. Also an der Zeit, den in den Kulissen schlissig gewordenen Zeffirelli wegzuwerfen und Calixto Bieito nun auch in Wien auf die Bühne zu bringen? Wir sind ja bekanntlich in allem spät dran.
Was Bogdan Roscic eingekauft hat, ist der klassische Fall einer szenischen „Übersetzung“: Man übersetzt eine Geschichte in ein anderes Milieu, meist – so auch hier – , um ihr die Ästhetik und den altmodischen Reiz, wohl auch ihr Klischee zu nehmen. Nun also nicht mehr Sevilla, sondern irgendwo in einer schäbigen spanischen Vorstadt, Ceuta (als ob das eine Rolle spielte), und wann? Immerhin will Micaela Selfies von sich und Don José machen. Der fünfziger Jahre Mercedes könnte ein teurer Oldtimer sein oder… was immer. Es ist nicht wichtig. Tatsache bleibt: Die alte Geschichte in einer anderen Welt. Die Telefonzelle steht nur da, damit Carmen daraus ihren Auftritt zelebrieren kann. Calixto Bieito scheut billige Effekte keineswegs (und manchmal werden sie dumm, wenn er in der Ouvertüre einen alten Herrn ein rotes Tuch zu einem Vogel falten lässt, der davon fliegt …. Wie symbolisch.)
Andererseits geht es beim Regieführen auch darum, eine Welt zu kreieren und sie dann konsequent durchzuziehen, ein bisschen, wie es in den „Meistersingern“ heißt: Wie fang ich nach der Regel an? Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann. Und das tut Bieito. Die weitgehend leere Bühne (Alfons Flores, dazu die schäbigen Kostüme: Mercè Paloma) füllt sich mit einem choreographisch herumtobenden Chor (er kommt im Lauf des Geschehens immer wieder und zeichnet sich durch besondere Lebhaftigkeit aus), und wenn im zweiten Akt (Adieu, Lillas Pasta!) der Merecedes herein brettert, was bei Live-Aufführungen sicher Szenen-Applaus geben wird, dann findet auf dem Auto auch eine wüste Party statt, mit hüftenwackelndem Tanz und wildem Getrommel auf die alte Kiste. Zum Schmuggeln im dritten Akt werden es noch ein paar Autos mehr (auf denen die Rivalen dann herumturnen müssen, nicht ganz ungefährlich, so pudeljung sind die Herren ja auch nicht mehr), und für den Stierkampf gibt es eine riesige Stier-Reklame im Hintergrund – okey, vielleicht bedarf es gar nicht viel mehr. Der offene Übergang vom dritten zum vierten Akt bringt den weiß gekleideten Herren des Beginns wieder auf die Bühne. Das tote Tüchl ist wieder da, diesmal als Muleta eingesetzt… Na ja.
Im übrigen lebt auch diese „Carmen“ von ihren Interpreten (eine Inszenierung allein macht es nicht), und vom Dirigenten: Da hat man mit Andrés Orozco-Estrada sehr gut gegriffen: Er lässt die Ouvertüre losstürmen, wie es dem Werk entspricht, und wenn dann das düstere Streicher-Tremolo einsetzt, bekommt man, wie erwähnt, ohnedies schon „Handlung“. Der Dirigent ist federnd, temperamentvoll, ein Begleiter, der die schwierigen Ensembles „trägt“. Auf stürmischen Effekt setzt er immer, auf Subtilität kaum (außer, sehr schön, zu Beginn des dritten Akts). Nun hat man auch schon „Carmen“-Interpretationen gehört, die programmatisch musikalisch viel „lockerer“ waren, aber das hätte man mit dieser Hauptdarstellerin nicht machen können: Die Carmen, die da in Gestalt von Anita Rachvelishvili aus der Telefonzelle kommt, ist der Inbegriff einer Powerfrau mit dem lange wallenden blauschwarzen Haar und einer jede Sekunde bewusst sexuell eingesetzten Figur. Wenn auch der Arbeitsmantel aus der Zigarrenfabrik auf Anhieb nicht attraktiv ist – wenn sie ihn öffnet, kommt die schwarze Spitzenunterwäsche zum Vorschein. Und, Calixto Bieito ist bekanntlich kein Diskreter, wenn sie dann die Rose die Schenkel entlang führt, landet sie genau dort, wo sich dann der Rosenduft mit dem speziellen Odeur der Dame mischen kann… Deutlicher geht’s nicht. José kann einem leid tun, zumal, wenn sie ihn später so belästigt, dass der arme Piotr Beczala sich nur rasch entwinden kann, sonst wird aus dem Spiel noch Ernst… Und dazu die Stimme: Anita Rachvelishvili verdankt ihre Karriere einem großen, wirklich leuchtenden Mezzo, wenn er auch in der Höhe gelegentlich scharf wird und manchmal distoniert. Aber eine so prachtvolle „Röhre“ imponiert immer. Aber sie kann natürlich keine chansonartig-parlando singende Carmen (auch die hat es gegeben) sein, die kommt mit voller Power auf alle zu – Partner und Zuseher. (Wozu man bemerken muss, dass ihre beiden Gefährtinnen alles tun, um stimmlich wenigstens halbwegs gleich zu ziehen, und das gelingt Szilvia Vörös und Slávka Zámečníková auch).
Dass Don José, als braver (wirklich braver) Durchschnittsmann verstanden, angesichts einer Frau wie dieser Carmen hilflos ist, heißt nicht, dass Piotr Beczala ihn nicht schön zu singen wüsste. Auch steigert er seine Verzweiflung schon im dritten Akt zu handgreiflicher Aktion, um es dann im letzten Akt noch mit Liebe und Zärtlichkeit zu versuchen, bis Carmen ihn brutal wegstößt (Körperlichkeit ist nicht ihr Problem). Den letzten Kampf tragen die beiden mit voller stimmlicher und darstellerischer Kraft aus.
Erwin Schrott, der diese Inszenierung kennt (zumindest ist er auf der DVD mit dabei), entkleidet Escamillo der Eleganz des Helden und macht, mit schieberisch-schräg aufgesetztem Hut, einen Wirtshaus-Casanova aus ihm. Und er hat die Stimme (den Bassbariton nämlich), um diese so kurze und dabei doch so schwierige Rolle zu singen.
Die eingesprungene Vera-Lotte Boecker ist eine Micaela mit wallend sexy Blondhaar, selbstbewusster Attitüde und mehr Höhenschärfe, als man gern hört. Sie fügt sich so in das allgemeine Getobe, dass sie als Komplementärfigur, die sie eigentlich sein sollte, ausfällt. Dazu noch Peter Kellner, Martin Häßler, Carlos Osuna und Michael Arivony als Soldaten bzw. Schmuggler.
Man muss diese „Carmen“-Inszenierung nicht überschätzen und so tun, als hätte man in einem langen Leben als Opernfan für diese Oper noch nichts Gutes oder sogar Besseres gesehen. Aber wenn man aus Erfahrung weiß, wie Calixto Bieito Werke kaputt inszenieren kann, ist man ja noch mit einem blauen Auge davon gekommen.
Renate Wagner