Irene Theorin, Stephen Gould. Copyright: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
WIENER STAATSOPER:1 1. 4. 2013: „SIEGFRIED“
Draußen: Ein Werktag im Zentrum einer Großstadt. Spätnachmittägige Stoßzeit. Autos, Busse, Straßenbahn, U-Bahn, Radfahrer, Fußgänger … Hochbetrieb auf allen Linien, in Restaurants und Geschäften. Einheimische im Stress und Touristen aus der ganzen Welt beleben die Straßen in ebenso vielen Sprachen. Wir schreiben das Jahr 2018. Also globales Zeitalter.
Drinnen – ebenfalls mitten in der Großstadt – tritt vollkommene Ruhe ein. Rund 2000 Personen auf ihren Sitzen oder Stehplätzen sind dem städtischen Getriebe entrückt. Wir sind in der Vorzeit, wo Zwerge und Riesen im Wald hausen, sprechende Vögel in den Zweigen zu vernehmen sind, der Held einen Drachen tötet, ein Gott eine Göttin aus ihrem Tiefschlaf unter der Erde weckt und der Held zuletzt sich mit einem Götterkind vereint, das viele Jahre auf einer vom Feuer umloderten Bergeshöhe geruht hat.
Das nehmen wir Operneingeweihten im Jahre 2018 einfach so hin. Als etwas ganz Selbstverständliches. Doch wer hat es verständlich gemacht? Wenn nicht Regisseur und Bühnenbildner, so doch Vertreter einer anderen Kunstsparte – oder eigentlich zwei. Ein Autor mit dem gewöhnlichen bürgerlichen Namen Richard Wagner, der Text nnd Musik geschrieben hat. Sänger und Musiker unter Leitung eines Dirigenten sind dafür verantwortlich, dass so viel stille Einkehr und zuletzt Jubelausbrüche gerechtfertigt sind. Wenn das gelingt, steht die Zeit nicht nur 5 1/2 – Stunden still, sondern ist so erfüllt, dass die Außenwelt erstirbt und wir jenseits aller Zeiten und Zonen ewig Gültiges erfahren und genießen.
Und dieses Ereignis war „Siegfried“ betitelt. Gerechtfertigterweise. Es bringt die Lebensgeschichte eines jungen Menschen, der unter schwierigsten Umständen zu sich selbst findet. Im globalen Zeitalter gar nicht so weit hergeholt. Ein Asylant und Analphabet, ohne Vater und Mutter, vom selbstsüchtigen Ziehvater schändlich benützt, damit er diesem zu großer Macht verhilft…Es gelingt nicht, jedoch der Held stirbt. Aber erst im nächsten Stück. Das an diesem Abend gespielte „Scherzo“ beinhaltet viel Witz, viel Gefühl, ist großes Theater und einfach unsäglich schön – mit dieser Musik, mit solchen Sängern, einem solchen Orchester…
Stephen Gould, zugereist aus Amerika, Kind schottischer und englischer Ahnen, wohnhaft in Wien und aller Welt, ist in dieser Rolle gewiss die Erfüllung der Wunschträume des Dichterkomponisten. Groß und stark, Gefühlsmensch mit Schauspieltalent, humorbegabt, von Natur aus bestimmt, sich singend mitzuteilen, wie uns dünkt. Nie klingt irgendeine Äußerung künstlich oder angestrengt. Ob Naturbeobachtung, Trauer um die verlorene Mutter, Dialog mit dem Ziehvater, mit dem Waldvogel, dem Drachen oder der erweckten Walküre – seine schöne, volle, Attacken-und Legato-fähige Tenorstimme auf fester baritonaler Basis hat unbegrenzt Kraft und Volumen und nach dem 2. Akt, wo dieser Siegfried sich mit ganz verinnerlichtem Gesang so rührend seine Mutter, ein Menschenweib, vorzustellen versucht und dabei seine Wange an den Reisesack presst, als wäre es die nie gesehene Mutter – da haben in der Pause viele Besucher gestanden, dass sie den Tränen nahe waren. Von der Heldenschablone weit entfernt, können wir 5 Stunden mit dem Menschen Siegfried mitfühlen, der es einfach nicht fassen kann, dass der ekelhafte Zwerg ihm ins Gesicht sagt, das er ihn vergiften will. Da es weit und breit keine Polizei, kein Gefängnis, keine helfenden Freunde gibt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als ihn selbst zu richten. Und es stimmt ihn traurig. Alles in allem, ein wunderbares Rollenporträt, mit Herz und Hirn und herrlicher Stimme gestaltet.
Der Kontrast zu den beiden giftigen Zwergen könnte nicht größer sein. Aber sowohl der Mime von Herwig Pecoraro (einge-wienerter Vorarlberger, wie auch sein Bühnenbruder) mit ebenfalls kräftigem, aber in seinem Gejammer und Gezetere über weite Strecken auch hell und locker geführtem Tenor und eindringlichster Wortbehandlung als auch der am Hause neue Alberich von Martin Winkler setzen nicht in erster Linie auf Lautstärke. Der Bariton sucht mit grellen, aggressiven Tönen seiner Feinde Herr zu werden. Beiden Sängern eignet eine körperliche Wendigkeit, die an Virtuosität grenzt. Dagegen strahlt der fest in sich ruhende Siegfried ja geradezu Würde aus. Der zum Wanderer gewordene polnische Wotan von Tomasz Konieczny ist in den ersten beiden „Siegfried“-Akten nunmehr gelöster, humaner, in seiner Wissenswette mit Mime umgänglicher als zuvor. Auch seine Stimme strömt ungezwungener und damit angenehmer. Erst im 3.Akt, sowohl Erda als auch dem aufmüpfigen Enkel gegenüber, verfällt der Sänger wieder in sein forciertes Stemmen und Pressen, mit entsprechendem Verlust an Wortdeutlichkeit.
Tomasz Konieczny, Martin Winkler. Copyright: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Da hatte ihm die slowenische Urmutter doch viel voraus. Monika Bohinec, wie schon im „Rheingold“, eingesprungen für Janina Baechle, sang klar und verständlich ihre klugen Aussagen – daran gab es für den Gott nichts zu rütteln. Der Riese des Jongmin Park setzte seinen immer riesiger werdenden Bass bedrohlich erst, dann im Angesicht des Todes klug sinnend ein. Im Kontrast dazu klang Hila Fahimas Waldvogel mit den lustvoll intonierten Höhen so richtig erholsam.
Dass eine Brünnhilde, die mindestens 16-17 Jahre auf einem freislichen Felsen barfuß und nur von ein paar weißen Schleiern bedeckt ohne Nahrungsuafnahme und Wetterschutz geschlafen hat, nach dem Erwachen auch ihre Stimme erst wieder testen muss, die verständlicherweise etwas vibriert, scheint entschuldbar. Iréne Theorin gewinnt nach und nach ihre Kraft zurück, ehe sie im Einklang mit dem wahrlich eingesungenen Tenorpartner zu einem fulminanten „Leuchtende Liebe, lachender Tod!“ fähig ist. Gespielt hat das nunmehrige Liebespaar diese Szene sehr natürlich und ergreifend.
Dass auf der wenig inspirierend gestalteten, aber auch wenig störenden Bühne (Bechtolf/Glittenberg) alles so gut klappte, ist weitgehend dem Dirigenten Adam Fischer mitzuverdanken, dem wir in den letzten Jahrzehnten eine enorme Entwicklung bescheinigen können. War er in früheren Jahren zwar auch mit viel Einsatz am Werk, setzte aber in erster Linie auf kräftigen Zusammenhalt des gesamten Apparats und Vorwärtsdrängen, so ist er im Zuge seiner vielen Wagner-Dirigate als Chef in Mannheim, dann beim „Ring“ in Bayreuth, bei seinem eigenen Wagner-Festival in Budapest und immer wieder an der Wiener Staatsoper zu einer wesentlich differenzierteren Arbeitsweise gelangt. Fad waren seine Abende nie, weil er immer für zügigen Ablauf sorgte, aber nun führt er nicht nur die Sänger und Musiker souverän wie immer, sondern lässt auch Gefühle sprechen. Lautstärke ist nicht mehr dominant, die besinnlichen Szenen im 1. und 2. Akt geraten sehr bewegend und das von Wagner so genial komponierte Gezänke zwischen Mime und Siegfried, das den Musikern ganz eindeutig enormen Spaß macht, war nicht nur brillant, sondern so witzig, dass man ständig lachen musste. Und ich wage sogar zu behaupten, dass ich das unter Karajan (unter dem ich meine ersten „Ringe“ gehört habe) zwar top-exakt und spannend, aber nie derartig witzig gehört habe, wie es heutzutage Thielemann, Petrenko, Schneider und nun auch Fischer zuwege bringen. Um mit diesem instrumentalen Riesenappart auch noch quasi spielen zu können – das verlangt schon großes Können und vor allem eine enorme Erfahrung. Wie Fischer in einem Künstlergespräch bei den „Opernfreunden“ sagte, sei man erst in den Sechzigern ein wirklich guter Dirigent, und er könne seine eigenen früheren Plattenaufnahmen heute gar nicht mehr hören. Solche Selbstkritik verdient Respekt.
Nun sollte ich eigentlich gerechterweise noch ein paar Seiten des Lobes für jeden einzelnen Musiker des Wiener philharmonischen Staatopernorchesters anschließen…Was die Holzbläser an betörender Verlockung, an frechen, spöttischen oder lustvollen Kommentaren zum Bühnengeschehen bieten, wie die 8 Hörner beim Schmieden Nothungs rhythmisch packend mithelfen, wie die Trompeten dessen Gelingen beblasen, Posaunen und Kontrabass mit dräuenden Fafner-Tönen Schrecken verbreiten, die feinseidenen Streicher Siegfried ins Waldweben einbetten oder die selige Öde auf wonniger Höh spüren lassen, von den gewaltigen Aufsschwüngen des gesamten Orchesters etwa vor Erweckung der Urmutter Erda oder der beänstigend und doch auch reizvoll wabernden Lohe auf dem Brünnhildenfels gar nicht zu reden…Da hört man so viel Perfektion und so viel unsägliche Klangschönheit…, dass ich nun lieber meinen Bericht beende, eh ich überschnappe vor Glück, das gehört zu haben.
Ein ganz leises PS am Ende: Ich habe den ganzen Abend keinen einzigen Huster aus dem Zuschauerraum gehört und kein Handy in Aktion gesehen. Und man sieht und hört gut von unseren Merkersitzen auf der Galerie! Ein typisches Wagner-Stammpublikum weiß sich zu benehmen, oder..? es hat gar keine Zeit, an etwas anderes zu denken als an die erfüllte Gegenwart. Mag „draußen“ vorgehen, was will.
Sieglinde Pfabigan