7.5.2017: „SIEGFRIED“ – 5 ½ Stunden auf der Sesselkante…
Stefan Vinke. Copyright: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Wenn man als langjähriger Opernbesucher, der unzählige Alternativbesetzungen am Pult und auf der Bühne erlebt hat, 5 ½ Stunden (inkl. Pausen, versteht sich) nie das Bedürfnis hat, sich gemütlich zurückzulehnen, weil sich da unten (so man, wie wir glücklichen ‚Merker‘, von ganz oben das gesamte musikalische Geschehen zusätzlich zum Großteil der Bühne überblickt) ständig irgendetwas Aufregendes abspielt, was man erstmals zu hören vermeint, dann ist das wohl das trefflichste Kriterium für die Qualität des Gebotenen. In Pausengesprächen gestanden wir „gestandenen“ Opernnarren einander, dass wir Mühe hatten, still zu sitzen, einander immer wieder zulachen mussten, irgendetwas mit den Händen tun wollten, und sei es nur mittaktieren…Die ganze Komödie zwischen Siegfried und Mime war sowohl musikalisch als auch seitens der Sängerdarsteller ein solcher geradezu „handgreiflicher“ Super-Spaß, dass schon nach dem 1. Akt nur eine Bravo-Salve auf das ganze Team niedergehen konnte…Und die Spannung hielt durch das ganze, aktionsreiche Stück hindurch an, bis Siegfried und Brünnhilde einander in die Arme fielen.
Wer kann so etwas bewirken? Wohl kaum ein junger Senkrechtstarter am Pult. Auch nicht jeder renommierte Konzertdirigent, wie in den letzten Jahren mehrmals geschehen. Wohl aber der nunmehr 78-jährige Peter Schneider, der, wie er selbst sagt, wieder einmal den „Ring“ neu entdeckt hat. Er sagte uns nachher am Bühnentürl, es sei ihm noch nie ein „Siegfried“ derart gut gelungen! Dass da natürlich die Philharmoniker „mitgespielt“ haben, versteht sich. Ohne Orchesterproben, wohlgemerkt. Von interner Seite vernahm ich, dass diese Meistermusiker am glücklichsten sind, wenn sie unter so kundiger Leitung spontan reagieren dürfen.
Was in Wagners „Ring“ vorgeht, ist von Anfang bis Ende überdimensional. Dass dies auch beim „Scherzo“, dem quasi heiteren Intermezzo im Weltgeschehen, der Fall ist, wurde einmal wieder überdeutlich. Der Zwerg Mime ist kein x-beliebiger Intrigant, sein Bruder Alberich kein konventioneller Bösewicht. Was die beiden tun, hat Gewicht. Gelungen oder nicht gelungen, sind ihre Intentionen von weltweiter Tragweite. Das sagt nicht nur der Text, sondern noch mehr die Musik. Mit einem etwa 100-köpfigen Orchester. Dieses mit vollem Einsatz musizieren, aber trotzdem nie so unangenehm dröhnen zu lassen, dass es einen niederschmettert, dabei jedes Detail hörbar, die ganze Hintergründigkeit spürbar und die vordergründige groteske Komödie genießbar zu machen – das ist eine Leistung! Hervorheben möchte ich die 8 Hörner, die der Komponist mit den unterschiedlichsten Aufgaben bedacht hat: Nicht nur sendet Solohornist Manuel Huber Siegfrieds Hornruf locker und wohltönend in den Wald, sondern seine Kollegen im Graben karikieren den tückischen Zwerg, amüsieren sich mit dem Titelhelden, dräuen als Drachenbegleiter, überschlagen sich vor Jubel über dem erfolgreichen Schmied…Dazu präsentieren die Holzbläser diverse klingende Delikatessen aufs Feinste, wobei vielleicht die Oboen die stärksten Gegensätze zu „besingen“ haben. Und dann das „schwere Blech“ – huuuh, da gruselt es einen…Alles meisterhaft gelungen! Und wenn die Streicher, nicht nur die Violinen, etwa wenn sie des Helden Ankunft in der „seligen Öde auf wonniger Höh“ illustrieren, sondern sehr stark auch die Bratschen, Celli und Kontrabässe sich zwischen witzelnden Kleinkmmentaren auf ihr Hauptfach, die breiten Melismen stürzen und, vor allem im 3. Akt, Siegfried auf seine göttliche Mission begleiten, dann bedeutet das: Glück ohne Ende für die Zuhörer. Und offenbar auch für die Musiker selber. Dunkles und Helles, Großes und Kleines, Ernstes und Heiteres – der musikdramatische Klangkosmos ist präsent in Vollendung. So erst kapiert man, in welchen Ausmaßen dieses unfassbare Genie namens Richard Wagners gedacht und komponiert hat. Das Stigma „laut und lang“, das ihm Unwissende, von Seiten des Theaters schlecht Bediente oder primär Böswillige anhängen zu müssen glaub(ten), kann vergessen werden…
Gerade beim für Wien neuen Titelrollensänger beweist sich, wie sehr die Umgebung eine Leistung mitbestimmt. Ich hatte Stefan Vinke als Siegfried erstmals in Weimar gehört, schon damals beachtlich hinsichtlich stimmlicher Souveränität und Durchhaltevermögen, aber als Darsteller noch zu wenig profiliert. Dann in Bayreuth, wo er in der Castorf-Inszenierung zu einer unbedeutenden Verlierer-Figur degradiert und durch Fehlpositionierung im Bühnenchaos auch vokal benachteiligt wird. Freudiges Staunen nun im Rahmen der durchaus sängerfreundlichen Bechtolf-Produktion und dank zusätzlicher Unterstützung durch den Dirigenten: Vinke konnte sich von seiner sympathischesten Seite präsentieren und auch seine stimmliche Leistung war zu bewundern. Obwohl er kein Schmeichel-Timbre besitzt, war seine sicher geführte, in allen Lagen gut anhörbare, unforciert eingesetzte Tenorstimme mit Steigerungsfähigkeit, auch hinsichtlich Klangqualität, im 3.Akt, schon imponierend. Dazu ein natürliches, lockeres Spiel, bei dem die Unmutattacken auf den widerlichen Ziehvater nicht in Brutalität ausarteten, der finale Todesstoß sich aber ganz logisch aus dem aufdringlichen Verhalten Mimes ergab und danach sichtlich bedauert wurde. Die starken Gefühlsmomente („So starb meine Mutter an mir“ oder das Waldweben) dürften, vor allem vom vokalen Ausdruck her, noch intensiviert werden. Jedenfalls gab es in der gut durchdachten und präzise auf die Musik abgestimmten Rollengestaltung keinen Leerlauf in den vielen Stunden seiner Bühnenpräsenz.
Des Staunens war wieder einmal kein Ende, was man aus der Figur des Mime alles herausspielen kann. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke realisierte jede Einzelheit, die ihm Wagner in Text und Ton vorgibt. Unser Amusement darüber, was einem begabten Bühnenkünstler alles einfallen kann, um die Figur lebendig zu machen, war grenzenlos. Man konnte das Auge nicht von diesem raffinierten, sich klug wähnenden und dabei stupiden Kerl wenden, der nicht kapiert, dass er durch maßlose Übertreibung und Selbstüberschätzung schnurstraks auf sein jähes Ende hinarbeitet. Stimmlich scheint alles von allein zu funktionieren. Dank extremer Wortdeutlichkeit und gut fundierter Stimme kommt auch sein tenoraler Beitrag zum Rollenporträt wie von selber. Ein alles in allem glänzendes Wiener Rollendebut!
Eine ebenso prachtvolle Erda war abermals, wie schon im „Rheingold“, Okka von der Damerau. Der wunderbar ebenmäßig strömende, warme, voll tönende Mezzosopran ist wie geschaffen für die Urmutter, die im Stress-freien Dauerschlaf offenbar viel für die Gesunderhaltung ihrer Stimme tun kann. Weniger glücklich machte Petra Lang als Erdas dem Feuerschutz überantwortete Tochter. Die paar Buhs waren zwar nicht gerechtfertigt, aber ihr eng geführter Sopran, der zwischendurch auch wieder Mezzoqualitäten zeigt, ist nicht durchwegs ein Ohrenschmaus. Es kommen zwar alle Töne, aber sie leuchten oder strahlen nicht, wie wir es von der „heiligen Braut“ erwarten zu dürfen glauben. Mehr aber hat mich die affektierte Darstellung der Wotanstochter gestört. Das snimmt der Brünnhilde viel von ihrem Format. Das mehrfach neckische Gehabe dieses Mädchens entspricht nicht dem heroischen Anspruch der Figur. Der bezaubernde, in höchsten Höhen beheimatete Stimme des Waldvogel-Sopran von Hila Fahima war hingegen Hörgenuss pur.
Den Wanderer sang Tomasz Konieczy einmal mehr mit viel Kraftaufwand. Schön ist die durchdringende helle Baritonstimme nicht und seine seltsame Vokalverfärbung macht viele Textpassagen unverständlich. Seine Bühnenpräsenz muss dafür entschädigen. In den tieferen Regionen bewährt: der Alberich des Jochen Schmeckenbecher und der Fafner von Sorin Coliban.
„Siegfried“ sollte sich als der eigentliche Höhepunkt des „Ringes“ präsentieren – meinen viele Wagner-Liebhaber. Denn hier wird Wagners Menschenideal – göttliche Abkunft, aber Menschwerdung aus eigener Kraft – dank der grandiosen musikalischen Unterstützung greifbar: „Siegfried erfreu‘ sich des Siegs!“ – Gestern tat er es.
Sieglinde Pfabigan