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WIEN/ Staatsoper: PIQUE DAME – In Wien liebt man Tschaikowskis Musik und Anna Netrebko

In Wien liebt man Tschaikowskis Musik und Anna Netrebko

Von Nikola Slabakova

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Foto: Nikola Slabakova

 

            Es ist der 21. Juni, der frühe Abend der Sommersonnenwende. Am Wiener Opernring ist es wie eine Art der Oase inmitten des Verhekrstrubels, mit Versen gesagt: „Hörst du wie die Brunnen rauschen“. Hier neben dem Opernbrunnen die Fußgängern, Autos und alle Geräuschen vor der Kulisse des monumentalen Gebäudes der Wiener Staatsoper, die jetzt die Menschen aus allen Richtungen der Straße lockt. Unterwegs passieren die Opernbesucher eine Gruppe von Anhängern einer politischen Haltung zu den Ereignissen in der Ukraine, deren friedliche Aktivitäten von der Polizei überwacht werden. Doch niemand beachtet die Gruppe, und der  Menschenstrom setzt sich weiter fort. Das Ziel ist der Haupteingang des Opernhauses. Heute steht auf dem Programm Pique Dame von Pjotr Iljitsch Tschaikowski Tschaikowski. Mit Anna Netrebko und Yusif Eyvazov in den Hauptrollen, für beide ist es heute das Rollendebüt in den Partien an der Staatsoper. Ja, ihr wisst es wahrscheinlich schon: Die Gruppe vor der Oper machte auf die russisch-österreichische Sängerin aufmerksam. Konzerte von Netrebko führten immer wieder zu Protesten: aus diesem Grund die Demonstranten vor der Staatsoper. Als Tschechin weiss ich, dass Ihr Konzert in Prag vor zwei Jahren abgesagt worden ist. Doch das gilt nicht für Wien. Es ist ausverkauft. Wie alle Vostellungen dieser Oper mit Netrebko jetzt im Juni. Rund 2000 Tausend Menschen kauften pro Vorstellung  die Karten. Für die meinsten ist es heute ein unvergesslicher Tag. Wenn auch Piotr I. Tschaikowski oftmals von Selbstzweifeln gequält wurde , betrachtete er seine Pique Dame als ein Meisterwerk, sein prsöhnliches, sein chef-d’œuvre, wie es er in einem Brief an seinen Brudes Modest formuliert (Programheft der WS). Die Oper, die 1890 im Mariinski-Theater in Sankt Petersburg zur Uraufführung gebracht wurde, an der Wiener Hofoper im Jahr 1902 uraufgeführt wurde, ist heute die 35. Aufführung in der Inszenierung aus dem Jahr 2007 von Regisseurin Vera Nemirova.   Vorher im Jahr 1999 brillierte hier Plácido Domingo in der in der Rolle des Hermann.

Die Geschichte: Nachdem alte Gräfin, sogenannte Pique Dame, moskowitische Venus ihr gesamtes Vermögen verspielt hatte, verkaufte ihr der Graf von Saint Germain zum Preis einer Liebesnacht das Geheimnis dreier unfehlbarer Karten. Der leidenschaftlich verliebte Protagonist Hermann versuchte sich dadurch soziale Gleichberechtigung zu verschaffen.

 

            Im Mittelpunkt des Abends stand das künstlerische  Quartett Frau + Männer.

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Foto: Nikola Slabakova

Der erste von ihnen war Dirigent Timur Zangiev. Mit seinen 31 Jahren (Jahrgang 1994) hat der russische Dirigent bereits über 50 Opernproduktionen dirigiert. Er ist ein gefragter Künstler seiner Generation (er arbeitet mit den Orchestern der Metropolitan Opera, der Wiener Staatsoper, der Bayerischen Staatsoper, der Semperoper Dresden, des Grand Theatres Genf, der Zürcher Oper,  Maggio Musicale Fiorentino, mit Wiener Philharmonikern und den großen Orchestern seiner Heimat zusammen). Sein Dirigierkönnen ist wie der Titel des gewaltigen Orchesterwerks des russischen Komponisten Alexander Skrjabin „Das Gedicht der Ekstase“. Tiefe, lebendige Emotionen (Leonard Bernstein: „Tschaikowsky ist ein emotionales Genie“), absolute Sicherheit in der Leitung des Orchesters, die Klangfarbe der Instrumentengruppen (ich hörte die Geige noch nie so zart im Pianissimo rauschen), farbenfrohe, prächtige, einheitliche Klänge der Bläser.  Ein gewaltiges Orchester– und Chorstück. Jede Note war ihm vertraut und er agierte als Dirigent vollkommen souverän ohne auch nur die geringste Möglichkeit zu geben, auszurutschen oder auszuweichen. Ein großartiges Erlebnis, umso mehr, denn ich hatte meine  Loge direkt neben der Bühne  und konnte dieses junge Genie mit dem v beobachten. Es war ebenso aufregend wie die Vorfreude auf Anna Netrebkos Auftritt. Und der gesamte Zuschauerraum erwartete ihn. Eine dunkel gefärbte, klare, große, sichere Stimme mit strahlenden Höhen und zarten Pianos war der Höhepunkt der weiblichen Besetzung der Oper. Dazu ist diese singende Schauspielerin Anna immer noch eine wunderschöne Frau. Ihre Arie vor dem Sprung in den Fluss, ihre Verzweiflung über den unrettbaren Hermann und gleichzeitig ihre Liebe zu ihm, die selbst im hohen H von Lisas großer Arie durchscheint, fließen wie ein mächtiger, breiter Strom der Newa.

            Hermann und sein Darsteller Yusif Eyvazov. Die inhaltlich wichtigste Rolle des Abends und brillant  besetzt. Eine kräftige Stimme, metallische Höhen und schauspielerische Präzision (Eyvazovs/Hermans Fingerstreich über die Wange seiner Frau/ Liza und die anschließende heftige Umarmung im Liebesduett der Oper lassen keinen Zweifel daran, dass zwischen den beiden Protagonisten eine starke Leidenschaft herrschte/herrscht (Obwohl sie ihre Trennung bekannt gaben, sind sie privat immer noch verheiratet. Was sagt der Ehering Eyvazovs?). Sein dämonisches, charismatisches Auftreten, den ganzen Abend in schwarzer Jacke, Hemd und Hose gekleidet, rabenschwarzes Haar und Bart unterstrichen die Mystik des Herman, wie er vom aserbaidschanischer Sänger gespielt wurde.  Der russische Bariton Alexey Markov war Tomski. Sein Rezitativ und die Ballade des Tomski war ein absolut spannendes Meisterwerk.

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Foto: Nikola Slabakova

 

            Stürmischer Applaus, Bravorufe, Blumen auf die Bühne geworfen. Was nehme ich von diesem Abend mit? Die Schönheit und Energie der russischen Musik – es ist wie ein Bad in lebensspendendem Wasser. Und die Worte Gustav Jungs aus seinem Interview aus dem Jahr 1960: „...Die große Demonstration ist der Eiserne Vorhang. Da sind Millionen von Leuten, die ganz anders denken oder anscheinend  fühlen als wir, mit denen man sich überhaupt nicht verständigen kann. Das ist der Zustand unserer Seele? Wir haben so zu viel  in uns, mit dem wir richtig nicht einstimmen, das wir lieber nicht haben möchten, von dem  wir nichts wissen wollen. Und das ist der Zustand von Europa, zum Beispiel? Oder von der Welt überhaupt? Der Westen spricht  von Freiheit und solchen Sachen. Aber es gibt keine ergreifende Leidenschaft darin. Wenn  der russische Mensch, der hat wenigstens eine Art von erlösender Fantasie.“ Ich wiederhole Bernsteins Worte über Tschaikowsky als Genie der Emotionen. Das ist meine Botschaft für diesen Abend. Und drittens, der Autor des Librettos zu Pique Dame ist Alexander Sergejewitsch Puschkin. Im Programmheft zur Oper lesen wir seine Aussage aus dem Jahr 1836: „Alles Edle, Selbstlose, alles, was die Seele des Menschen erhebt, wird unterdrückt durch unerbittlichen Egoismus und Sucht nach Wohlstand.“ Sind diese Worte nach fast zweihundert Jahren noch aktuell? Kann ein Mensch lernen, anders zu denken, ohne dass es zu einer globalen Katastrophe kommt, oder gibt es immer diejenige, die die Blumen der  Schöpfung Gottes nicht sehen wollen?

            In unserer Loge saß eine in Österreich lebende tschechische Familie mit zwei 8- bis 10-jährigen Jungen. Die Kinder sprachen Deutsch und Tschechisch. Interessant war, wie die Jungen die dreieinhalbstündige Aufführung ruhig ertrugen. Die Eltern führten die Kinder in die Schönheit der Musik, sie lehnten die russische Kultur nic ab. Sie erziehen ihre Kinder korrekt, auch  nach antiken Autoren. Denn nach Sokrates‘ Interpretation wird die Seele nicht nur durch Worte (Geschichten, Mythen und Erzählungen), sondern auch durch Musik moralisch geformt: „Ist nun, mein Glaukon, die Erziehung durch Musiké nicht darum von entscheidender Wichtigkeit, weil Rhythmus und Harmonia am meisten in das Innere der Seele eindringen und sie am stärksten ergreifen, indem sie die rechte Haltung mit sich bringen und den Menschen demgemäß gestalten, wenn er richtig erzogen wird, wo nicht, das Gegenteil? Und nicht andererseits auch darum, weil der (welcher durch Musiké erzogen wird) am schärfsten das Mangelhafte und Unschöne an Werken der Kunst oder der Natur bemerkt und in gerechtem Unmut darüber sein Lob nur dem Schönen zuwendet, an ihm seine Freude hat und es in seine Seele aufnehmen und daraus seine Nahrung ziehen und dadurch gut und edel werden wird, das Hässliche dagegen tadeln wird, wie es sich gehört, und es hassen wird von jung auf, noch ehe sein Verstand reif genug ist, die Gründe dafür zu begreifen? Stellt sich aber der Verstand ein, so wird er von keinem willkommener geheißen als von dem in dieser Weise Erzogenen; denn er erkennt in ihm seinen Verwandten. […]“ (Platon Politeia).

Im Publikum war auch der ehemalige Staatsopern-Direktor Ioan Holender anwesend, der am 28. 6. 2025 eine Matinee zu seinem 90. Geburtstag an der Staatsoper haben wird.

Nikola Slabakova

 

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