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WIEN / Staatsoper: PETER GRIMES von Benjamin Britten

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Fassungslos: Lise Davidsen (Ellen Orford), Jonas Kaufmann (Peter Grimes) und Bryn Terfel (Balstrode) über dem Körper des ertrunkenen Knaben gebeugt. Alle Fotos: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper: PETER GRIMES von Benjamin Britten

43. Aufführung in dieser Inszenierung

29. Jänner 2022

Von Manfred A. Schmid

Die Mielitz-Inszenierung von Benjamin Brittens erfolgreichster Oper, seit einem Vierteljahrhundert verfügbar, hat es bisher nur auf 43 Aufführungen gebracht. Das ist erstaunlich wenig, denn dieser Peter Grimes hat das Zeug zu einem fesselnder Psychothriller. Wie hier ein ehrgeiziger Einzelgänger und gesellschaftlicher Außenseiter an seinen eigenen Ansprüchen scheitert und von einer bigotten Dorfgemeinschaft – im Sinne einer self fulfilling prophecy – in den Selbstmord getrieben wird, zerrt an den Nerven des Publikums und läuft – in seiner unaufhaltsamen Zwanghaftigkeit – wie eine griechische Tragödie ab. Das liegt nicht zuletzt auch an Christine Mielitz, die – wie heute auch schon jedes bessere Fischrestaurant – auf jegliche Anbiederung an idyllische Fischerdorfromantik mit Netzen, Ankern und dergleichen verzichtet und stattdessen alles in einem weiter nicht lokalisierbaren, nüchtern-modernistischen Umfeld mit grellen Neonstreifen am Boden und an den Wände, stattfinden lässt. Nichts lenkt von den sich zuspitzenden Konflikten ab, die, aus Gerüchten und Spekulationen genährt, schließlich in einer Katastrophe münden. So kann sich Christine Mielitz voll auf die handelnden Protagonisten konzentrieren, deren Charaktere sichtbar machen sowie die von selbstgerechten Aufwieglern gesteuerten Massen und deren bedrohlich werdenden „Volkszorn“ in Aktion treten lassen. Ein winziges Boot und ein paar Taue, die einmal über die Bühne geschleppt werden, genügen ihr vollauf (Bühne & Kostüme Gottfried Pilz). Über allem prangt eine hellstrahlende Scheibe in wechselnden Farben und Licht: Sonne und Mond stehen unbeteiligt und unberührt über dem, was immer auf Erden geschehen mag.

In den letzten Jahren wird in den meisten Produktionen der Oper das Hauptaugenmerk auf die homoerotische Fixierung der Titelfigur gelegt. Ein typisches Beispiel dafür lieferte Christoph Loy im Vorjahr im Theater an der Wien, der deshalb den Schiffsjungen nicht als Kind, sondern als verführerischen jungen Mann auf die Bühne stellte. Diese Komponente mag zwar sehr wohl die grundsätzliche Motivation für den Komponisten gewesen sein, sich dieses Stoffes anzunehmen. Im Libretto ist das allerdings nur vérschlüsselt angedeutet. Alles bleibt in Schwebe und ungeklärt und – bis zum bitteren Ende – eben nur ein Gerücht und an keiner Stelle ausgesprochen. Britten hat sich auch selbst nie als homosexuelle geoutet, daher wäre es absurd, wenn er dies in dieser für ihn so wichtigen Oper klar auf die Bühne gebracht hätte: „Als ich Peter Grimes schrieb, ging es mir darum, meinem Wissen um den ewigen Kampf der Männer und Frauen, die ihr Leben, ihren Lebensunterhalt dem Meer abtrotzten, Ausdruck zu verleihen – trotz aller Problematik, ein derart universelles Thema dramatisch darzustellen.“

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Jonas Kaufmann (Peter Grimes)

Was wirklich dahintersteckt, bleibt also im Unklaren. Christine Mielitz nimmt das ernst. Ihr Peter Grimes ist in erster Linie ein Mann, der als Fischer ehrgeizige Pläne verfolgt und sich in seinen Aktionen von der Kollegenschaft abhebt. Je mehr er als versponnen verachtet und unziemlichen Umgangs mit seinem Schiffsjungen verdächtigt wird, umso mehr will er den Dorfbewohnern beweisen, was für ein erfolgreicher Fischer er ist. Er träumt davon, so viele Fische zu fangen, dass er sich endlich ein großes Haus für sich und seine – künftige – Familie und ein Geschäft leisten kann. Da er sich in diese Fantastereien immer mehr hineinsteigert, wird er beim Versuch, sie umzusetzen, rücksichtslos gegenüber dem Buben aus dem Waisenhaus, der ihm als Helfer zugeteilt wurde. In dieser Inszenierung ist das ein junger, etwa siebenjähriger Knabe (Ilja Savenko). Für möglicherweise vorliegende Pädophilie fehlen jegliche Anhaltspunkte.

Jonas Kaufmann bewährt sich in dieser neuen Rolle nach besten Kräften. Meist in einem ausdrucksstarken Legato singend, verleiht er den eingestreuten Gefühlsausbrüchen die nötige Vehement und Schärfe. Überaus anrührend ist die Schlussszene, wenn er, über den Leichnam des Jungen gebeugt, eine leise, zarte, beklemmend innige Wehklage anstimmt. Zu einer Paraderolle dürfte diese Partie für ihn nicht werden, auch wenn sich sein baritonal gefärbter Tenor und das samtige Timbre als durchaus stimmig erweisen. Am Anfang erscheint er etwas müde, was sich allerdings bald legt. Eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass wegen der stimmlichen Anforderungen dieser Partie oft Wagner-Sänger herangezogen werden.

Dass Kaufmann nicht ganz so stark im Mittelpunkt der Aufführung steht, ist der imposanten, ungemein bühnenpräsenten norwegischen Sängerin Lise Davidsen geschuldet. Als Witwe Ellen Orford, die sich zu Peter Grimes hingezogen fühlt, ihm bei seiner zweiten Chance sich zu bewähren zur Seite steht und sich eine gemeinsame Zukunft durchaus vorstellen kann, sorgt sie für Aufmerksamkeit, die über das übliche Maße hinausgeht. Ihr lyrischer Sopran hat eine gewisse Schwere, die dieser Partie gut ansteht. Eindringlich ihr Schmerz, als sie auf der Weste des Kindes, die gefunden wird,  die von ihr angefertigte Stickerei entdeckt und das Schlimmste annehmen muss.

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Lise Davidsen (Ellen Orford) und der Schiffsjunge

Bryn Terfel als Balstrode, der einzige Mann im Dorf, der zu Grimes eine freundschaftliche Beziehung unterhält, verleiht dieser Figur mit seinem mächtigen und dennoch warmen Bassbariton ein sympathisches Profil. Seine sorgenvolle  Anteilnahme an dessen Geschick klingt wahrhaftig, umso erschütternder seine Reaktion auf das Scheitern seines Freundes, den er – um ihn vor der Meute zu schützen – schweren Herzens den Rat gibt, mit dem toten jungen an Bord hinaus zu rudern und das Boot zu versenken.

Als Gastwirtin Auntie ist Ensemblemitglied Noa Beinart eine respektgebietende, resolute Erscheinung, die mit ihren beiden – angeblichen – Nichten (Ileana Tonca und Aurora Marthens) im Dorf für Ordnung und zwielichtige Unterhaltung sorgt, die von der Regisseurin auch drastisch dargestellt wird. Umso fadenscheiniger die moralische Entrüstung, die die Dorfbewohner gegenüber Grimes an den Tag legen. Rechtsanwalt und Bürgermeister Swallow – die Hausbesetzung mit Wolfgang Bankl wie stets eine sichere Nummer, und der geifernde Prediger Bob Boles – skurril und engagiert Thomas Ebenstein, eingeschlossen.

Skurril und ausgefeilt ist auch der Auftritt von Stephanie Houtzeel als Mrs. Sedley, eine Witwe, deren Hobby Kriminalfälle sind, zu deren Lösung sie das Ihre beitragen will. Stimmlich bleibt der Mezzosopran diesmal allerdings eine Spur zu hintergründig.

Gute Leistungen bieten zudem Carlos Osuna (Reverend Horace Adams) und Martin Häßler als Ned Keene. Besonders hervorzuheben ist auch der bestens einstudierte Chor, der viel zu tun hat und sich bedrohlich mäandernd auf Peter Grimes zusteuert.

Simone Young zeigt mit ihrer aufmerksamen Leitung, wie gut sie stets mit dem Geschehen auf der Bühne vernetzt ist und den Sängerinnen und Sängern den nötigen Raum zur Entfaltung bietet. Besonders auffallend, vielleicht das gesanglich größte Ereignis des Abends, ist das Frauenquarttet im zweiten Akt. Die Stimmen schmiegen sich aneinander, der Gesang ist himmlisch. Wie nahe hier Benjamin Britten der Musik seines Kollegen Richard Strauss kommt, hat man noch selten so klar gehört.

Die orchestralen Zwischenspiele – das Brausen des Meeres, der Stürme und der Gischt und wie der Mensch dagegen ankämpft – gelingen großartig. Hervorzuheben u.a. die melancholischen, tiefgründigen Klänge der Solobratsche. Hätte es eines Beweises bedurft, dass die Dirigentin mit Recht zum Ehrenmitglied es Hauses ernannt wird, hiermit würde er vorliegen. Und nicht zuletzt hat Simone Young mit ihrer Interpretation gezeigt, dass der Hauptgrund für die einleitend behauptete These, die Oper sei ein packender Psychothriller, in der großartigen Musik Benjamin Brittens liegt. Sie ist es, die die Spannung erzeugt und das Publikum in ihren Bann zieht. Da gibt es kein Entrinnen. Wieder einmal bewahrheitet sich, was eine Oper ausmacht: Sie ist dramma per musica. Nicht m i t Musik, sondern d u r c h die Musik!

Begeisterter Applaus.

30.1.2022

 

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