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WIEN/ Staatsoper: PETER GRIMES – letzte Vorstellung der Serie

WIEN / Staatsoper: „PETER GRIMES“ –   08.02.2022  –  LETZTE VORSTELLUNG

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Bryn Terfel, Jonas Kaufmann. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn

 Die Omikron-Welle schwappt nun auch über die Kultur herein. Die „Jenufa“-Premiere im Theater an der Wien muss verschoben werden, das Raimund-Theater muss für mindestens eine Woche den Spielbetrieb einstellen, weil zu viele Krankheitsfälle im Ensemble des Musicals „Miss Saigon“ aufgetreten sind, die St. Petersburger Philharmoniker müssen ihre Europa-Tournee absagen etc. Auch die Staatsoper bleibt da nicht verschont. Weil so viele Krankheitsfälle im Staatsopernchor aufgetreten sind, konnten die letzten drei Vorstellungen von Benjamin Brittens „Peter Grimes“ nur stattfinden, weil Mitglieder des Arnold Schoenberg Chors durch beherztes Einspringen die krankheitsbedingen Lücken schließen konnten. Und in der letzten Vorstellung fielen nun die angesetzten Sänger für Ned Keene und Mr. Hobson und gleich beide Alternativbesetzungen für den kleinen John ebenfalls Corona-bedingt aus.

An dieser Stelle kann man Kapitän Bogdan Roščić und seiner gesamten Crew nur gratulieren, dass sie das Riesenschiff Wiener Staatsoper bisher so gut durch den Corona-Sturm steuern konnten. Hoffentlich hält das Schiff nun auch der Omikron-Welle Stand.

Nach den sensationellen Aufführungen von Tschaikowskys „Pique Dame“ hatte man gehofft, dass die „Peter Grimes“-Serie ähnlich sensationell verlaufen würde. Die Besetzung auf dem Papier versprach das zwar, aber leider war dies dann doch nicht ganz der Fall. Beide Werke standen längere Zeit nicht mehr am Spielplan („Pique Dame“ sieben Jahre, „Peter Grimes“ etwas mehr als fünf Jahre). Aber leider hat man beide Werke nicht mit der gleichen Sorgfalt szenisch aufgefrischt.

Wer kann sich eigentlich noch an den großen Streit zwischen der Regisseurin Christine Mielitz und den Dirigenten Mstislaw Rostropowitsch während der Proben zur Neuinszenierung von Brittens „Peter Grimes“ im Jahr 1996 erinnern? Mielitz wollte die Zwischenspiele inszenieren und Rostropowitsch wollte das nicht zulassen. Herausgekommen ist dann ein Kompromiss, mit dem dann wohl beide irgendwie leben konnten. Das Herzstück der Inszenierung war die intensive Beziehung zwischen Peter Grimes und seinem Lehrling John, wobei Mielitz (im Gegensatz zu Christof Loy im Theater an der Wien) eine sexuelle Komponente nicht angedeutet hat. Jeder, der eine der 15 Vorstellungen erlebt hat, in der Neil Shicoff die Titelpartie gestaltet hat, wird diese unglaublich intensiven Szenen zwischen Shicoff und dem jungen Manuel Wagner niemals vergessen. Aber auch alle nachfolgenden Tenöre (Kurt Schreibmayer, Thomas Moser, Gabriel Sadé, Herbert Lippert und zuletzt 2016 Stephen Gould) konnten diese starke Beziehung zu dem Jungen glaubhaft umsetzen. Aber diesmal funktionierte es überhaupt nicht. Lag es an Jonas Kaufmann? Oder an den Kinderdarstellern (es gab alternative Besetzungen)? Oder gab es zu wenig Proben? Die Mielitz-Produktion war eine der besten und spannendsten Inszenierungen, die in der Wiener Staatsoper in den letzten 25 Jahren zu sehen waren. Jetzt präsentierte sie sich nur noch als schwacher Abklatsch einer einstmals guten Produktion. Schade. Aber auch sonst waren szenische Schwächen zu bemerken, in der Personenführung, in der Beleuchtung. Und dass in einer der fünf Vorstellungen die Attrappe des Kinderkörpers auf den Bühnenboden aufprallte, noch bevor der Schrei des herabstürzenden Kindes zu hören war, so etwas darf einfach nicht passieren. Es ist wirklich schade, dass man bei der szenischen Einstudierung der Britten-Oper nicht die gleiche Sorgfalt wie bei Tschaikowskys „Pique Dame“ walten ließ.

Auch in den Jubelchor für die Dirigentin Simone Young kann ich leider nicht miteinstimmen. In der ersten Vorstellung wollte sie wohl einen Lautstärkenrekord aufstellen, sie war unerträglich laut und machte sämtlichen Sängern (mit Ausnahme von Lise Davidsen) das Leben schwer, von einigen Sängern hörte man an diesem Abend überhaupt nichts auf der Galerie. Ab der zweiten Vorstellung reduzierte sie dankenswerterweise die Lautstärke etwas. Da hat mir die rhythmische Präzision und die Sängerfreundlichkeit im Theater an der Wien (Thomas Guggeis am Pult des ORF Radio-Symphonieorchesters) wesentlich besser gefallen. Außerdem hatte ich das Glück, „Peter Grimes“ unter so großartigen Dirigenten wie Colin Davis, Bernard Haitink, Antonio Pappano und Simon Rattle zu erleben, die alle bewiesen haben, dass man nicht ausschließlich auf Lautstärke im Orchester setzen muss. Bei Simone Young gibt es außerdem auch immer wieder Wackelkontakte zwischen Orchestergraben und Bühne. Am besten gelangen ihr noch die Zwischenspiele.

Jonas Kaufmann, frisch gebackener Kammersänger und seit Kurzem auch Österreichischer Staatsbürger, sang also seinen ersten Peter Grimes nun an der Wiener Staatsoper. In der ersten Vorstellung ging er mit seinen stimmlichen Mitteln noch sehr sparsam um (und war wegen der Lautstärke des Orchesters vor der Pause stellenweise gar nicht zu hören), steigerte sich aber im Lauf der Aufführungsserie. Er wirkt aber wie ein Fremdkörper in dieser Inszenierung. Fühlte er sich in der Mielitz-Produktion nicht wohl? Aber in der Christof Loy-Inszenierung kann ich ihn mir noch weniger vorstellen. Vielleicht sollte er diese Rolle doch eher in einer Neuinszenierung mit einem Regisseur erarbeiten, der auf seine Persönlichkeit eingeht. Dass er ein guter Peter Grimes werden könnte bewies er jetzt schon mit der großartig gestalteten Wahnsinnsszene im 3. Akt.

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Lise Davidsen. Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Die beste Gesangsleistung des Abends steuerte Lise Davidsen als Ellen Orford bei. Eine Frau, die viel Gefühl für den Außenseiter Peter Grimes und vor allem für den kleinen John aufbringt. Mit ihrem dramatischen Sopran, der bereits jetzt ins hochdramatische Fach weist, trotzte sie auf der Bühne wie ein Fels in der Brandung den Orchesterfluten. Wenn die norwegische Sängerin, die in dieser letzten Vorstellung übrigens ihren 35. Geburtstag gefeiert hat, auf ihre Stimme aufpasst und noch einige Zeit der Versuchung widerstehen kann, die hochdramatischen Partien zu früh zu singen, dann wird sie in einigen Jahren DIE Brünnhilde und DIE Isolde werden.

Ist es tatsächlich schon 25 Jahre her, dass Bryn Terfel – ebenfalls seit einer Woche Kammersänger – zum ersten Mal in dieser Inszenierung den Balstrode gesungen hat? Man glaubt es kaum. Und noch immer ist er eine Idealbesetzung, ja man kann sich kaum eine bessere Besetzung vorstellen. Mit seiner starken Persönlichkeit und mit seinem warmen Bassbariton wertet er die gar nicht so große Partie enorm auf.

Mit Ausnahme von Wolfgang Bankl (Mr. Swallow) und Carlos Osuna (Rev. Adams) gaben alle anderen Sänger ihr Rollendebüt in dieser Aufführungsserie. Aus dem Ensemble (Ileana Tonca und Aurora Marthens als Nichten, Thomas Ebenstein als Bob Boles, Stephanie Houtzeel als Mrs. Sedley) möchte ich eine Sängerin hervorheben, die besonders positiv auffiel: Noa Beinart ließ als Auntie ihre schöne Alt-Stimme weich strömen. Endlich haben wir wieder eine Altistin im Ensemble!

Und Omikron sorgte dafür, dass in der letzten Vorstellung noch drei Partien kurzfristig umbesetzt werden mussten: statt Martin Häßler sang nun Michael Arivony den Apotheker Ned Keene. Der junge Bariton aus Madagaskar, Mitglied des Opernstudios, machte auf seine schöne Stimme aufmerksam und fiel auch durch sein engagiertes Spiel positiv auf. Statt Erik van Heyningen sang nun Ilja Kazakov den Fuhrmann Hobson. Der Bassist aus Kasan, ebenfalls ein Mitglied des Opernstudios, fügte sich unauffällig ins Geschehen. Offenbar war keine Zeit mehr für eine Probe, denn eigentlich sollte er mit seiner Trommel die Meute anführen, wenn die Menschenhatz auf Peter Grimes eröffnet wird. So ging er jedoch ab in die Gasse und von dort hörte man die Trommel ertönen (von wem auch immer gespielt). Und noch eine Absage gab es zu bewältigen: beide Alternativbesetzungen des kleinen John fielen ebenfalls wegen Omikron aus. Die tapfere kleine Julia Oos sprang ein und machte ihre Sache gut. Dass sie nicht auf die Leiter kletterte, sei ihr gerne verziehen. Auch da war wohl keine Zeit mehr zu proben. Allen erkrankten Mitgliedern der Wiener Staatsoper sei an dieser Stelle ganz herzlich baldige Genesung gewünscht.

Noch ein Zusatzlob muss ich hier anbringen: mir ist erstmals aufgefallen, dass auf dem Besetzungszettel ein Sprachcoach aufscheint. Der englische Tenor Stephen Chaundy, der 14 Jahre lang Ensemblemitglied der Wiener Volksoper war, überwachte die Aussprache der Sänger, die aus vielen verschiedenen Ländern der Welt stammen. An der Metropolitan Opera gibt es das schon seit Jahrzehnten.

Die Leistung des Chors sei noch einmal hervorgehoben. Die Mitglieder des Arnold Schoenberg Chors konnten nur deshalb einspringen, weil sie diese Oper im Oktober im Theater an der Wien gesungen haben. Es spricht für die Qualität unseres Staatsopernchors und der eingesprungenen Mitglieder des Arnold Schoenberg Chors, dass man weder stimmlich noch auf der Bühne im Spiel eine Splittung feststellen konnte. Homogen und stimmgewaltig sangen sie zusammen und waren auf der Bühne einheitlich eine bedrohliche Masse. Bravo!

Nachdem ich nun alle fünf Aufführungen in der Staatsoper und im Oktober fast alle Aufführungen im Theater an der Wien gesehen habe, drängt sich einfach ein Vergleich auf. Und ich muss gestehen, dass der erste Preis eindeutig an das Theater an der Wien geht, weil die Wiederaufnahme der zu Recht preisgekrönten Inszenierung von Christof Loy dort im Gesamten gesehen überzeugender, spannender, berührender war und weil dort auch der bessere Interpret der Titelpartie zur Verfügung stand. Eric Cutler war einfach sensationell als Peter Grimes. Bei den Olympischen Spielen freuen wir uns doch auch über jede Silbermedaille. Also kann die Staatsoper mit dem zweiten Preis durchaus zufrieden sein. Und es ist schön, dass wir in Wien zwei so unterschiedliche aber dennoch fast gleichwertige Produktionen dieses Meisterwerks von Benjamin Britten in einer Saison sehen konnten.

 

Walter Nowotny

 

 

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