WIEN / Staatsoper: Claude Debussys „PELLÉAS ET MÉLISANDE“ – Für viele eine Herzensangelegenheit
Reprise vom 24.6. – Karl Masek
Ausnahmsweise ein Bild von der Uraufführung 1902 in Paris: Die schottische Sängerin Mary Garden mit ätherischer Ausstrahlung C: Getty Image
Seit der Wiener Erstaufführung im Mai 1911 – die Uraufführung fand am 30.4.1902 an der Opéra Comique in Paris statt – ist dies an der Wiener Staatsoper erst der dritte Anlauf einer Neuinszenierung dieses Solitärs unter den Werken des beginnenden 20. Jahrhunderts. Auswärtige Gastspiele und die sensitive Laurent-Pelly-Inszenierung 2009 im Theater an der Wien mit Natalie Dessay als Mélisande nicht mit gerechnet, ist diese Reprise der Neuinszenierung von Marco Arturo Marelli erst die 47. Aufführung im Haus am Ring, bemüht man die langjährige Statistik. Immer wieder eine Herzensangelegenheit für Opernliebhaber, die sich auch außerhalb ausgetretener Pfade bewegen. Aber breitere Popularität hat dieses klangmagische Werk „…mit einer Wort-Ton-Einheit, wie sie besser nicht sein kann …“ nie erlangt. „Es ist nicht unbedingt die bekannteste Oper, schon deshalb, weil sich Melodien nicht so leicht nachsingen lassen wie etwa bei einer Verdi-Oper. ‚Pelléas et Mélisande‘ ist vom Wesen her ein ungemein französisches Werk, aber auch nicht das populärste in Frankreich“, so der Premierendirigent Alain Altinoglu in einem Gespräch mit Oliver Láng, das im Programmheft abgedruckt wurde.
So wurde auch die legendäre Karajan/Schneider-Siemssen-Inszenierung von 1962 in 10 Jahren nur 18mal gespielt.
Erinnerungsblatt: Einer meiner prägendsten, unter die Haut gehenden, frühen Operneindrücke im Juni 1972 mit Jeannette Pilou (Mélisande), Henri Gui (Pelléas) und Eberhard Waechter (Golaud), Dirigent: Serge Baudo.
Direktor Rudolf Gamsjäger kippte dann dieses Juwel aus dem Repertoire. Der Antoine-Vitez-Inszenierung im Bühnenbild von Yannis Kokkos vom Juni 1988 (in der meiner Meinung nach ziemlich unterschätzten Ära Claus Helmut Drese), dirigiert von Claudio Abbado, ging es nach 14 Aufführungen nicht anders. Joan Holender machte es Gamsjäger nach – und weg war eine erfolgreiche, stilbildende Inszenierung. Das Brunnen-Bild von damals – Pélleas und Mélisande schauen vom Brunnenrand aus ins Publikum „hinunter“ – sehe ich heute noch vor mir. Publikumsrenner war Debussys einzige vollendete Oper dessen ungeachtet nie. Damit ging‘s ihr ähnlich wie Alban Berg mit ‚Wozzeck‘ oder Leoš Janáček mit seinen Meisterwerken…
Aber 2018 ist ein Debussy-Gedenkjahr (der 100. Todestag steht an). So entschloss sich Dominique Meyer, diese Neuinszenierung „einzukaufen“. Marelli ist bekanntermaßen ein Vielfach-Verwerter seiner eigenen Arbeiten. Schon 2004 lief diese Inszenierung in Berlin, jetzt also Wien mit einer Adaptierung des damaligen Konzepts.
Also: GANZ NEU ist sie nicht wirklich. Ist sie aber gelungen oder „stilbildend“, wie ich dann gerne sage? Wird etwas künstlerisch umgesetzt, was das an Symbolen reiche Stück hinter der Dreiecksgeschichte verlangt? Sind emotionale wie intellektuelle Zugänge sichtbar, sind Metaphern erkennbar, erfassbar? Und vor allem: Wird die Geschichte erzählt? Gelingt die Abfolge von Stimmungsbildern? Gibt es einen Zugang zu „objektiver Ästhetik“?
Franz-Josef Selig, der Sänger des ‚Arkel‘, König von Allemonde, versicherte in einem spannenden Gespräch nach der Hauptprobe (s.: „Interviews“!), Marelli erfülle diese Voraussetzungen vollinhaltlich, indem er …“die Familiengeschichte erzählt und einen Zugang zu objektiver Ästhetik findet.“
Nun also die Umsetzung in der Vorstellung. Vieles gelang. Das Bühnenbild – ein bunkerartiges Schloss Allemonde, Betonblöcke strahlten Bedrohlichkeit aus, gaben ein passend düsteres Pendant zu Debussys dunkler Instrumentation ab. Die Farben grau, nachtblau und dunkelbraun dominierten. Blickfang war ein weißes Boot, in dem Mélisande zum Schluss in eine Art Abendrot „aus dem Leben gezogen“ wurde. Die stärkste Szene des Abends. Grotte, Brunnen: Angedeutet, erahnbar, stilisiert. Naturalismus ist nicht angesagt und wäre auch zu Debussys rezitativisch-sprachmelodischem Duktus nicht passend. Wasser ist das bühnenbeherrschende Element, es ist auch ständig vom Wasser die Rede. So wie auch den Protagonisten das Ambiente Allemondes die Luft zum Atmen nimmt: Man möchte in das brackig anmutige Wasser nicht hinein steigen…
Die Personenführung und Lichtregie Marco Arturo Marellis war im positiven Sinne bedächtig und durchdacht, weil immer an Debussys Impressionismus und Maeterlincks Symbolismus entlang inszeniert wurde.
Im Detail ist auch Kritisches anzumerken: Durch die Wasserfläche in der Mitte gab es immer wieder Szenen, die an den äußeren Rändern der Bühne angesiedelt bleiben, und manches dadurch zumindest teilweise uneinsehbar blieb. Sowas nehm‘ ich grundsätzlich übel als Publikum! Regisseure scheinen sich während der Probenarbeiten selten auf „seitlichere“ Plätze des Balkons und der Galerie zu begeben. Auch „Umbaupausen“ bei mehr oder weniger Einheitsbühnenbildern gehören nicht zu den von mir besonders geschätzten „Stilmitteln“.
Musikalisch war die Einstudierung rundum gelungen. Alain Altinoglu erzielte gemeinsam mit dem Orchester der Wiener Staatsoper eine perfekte klangliche Balance zwischen ‚Kopf‘ und ‚Herz‘. Der Feinzeichner war ausgepackt. Hochspannung spätestens ab dem 3. Akt, wenn sich das Dreiecksgeschehen zuspitzt. Diese Wiedergabe lud ein, bei der nächsten Begegnung mit diesem Werk eine Partitur zum Mitlesen dabei zu haben.
Olga Bezsmertna, Adrian Eröd. Copyright: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Hervorragend die Sängerleistungen. In der Reihenfolge des Programmzettels:
Franz-Josef Selig: Er sang den König Arkel prachtvoll, Respekt gebietend, berührend mit den letzten Worten im Stück. Sein lyrischer ‚basso profondo‘: weich, samtig, gerundet, auch zu eindrucksvollen crescendi findend.
Bernarda Fink: Mit stilkundiger, pastoser Altstimme (mit Debüt am Haus!) war sie als Geneviéve menschlich-fürsorglicher Ruhepol im düsteren Schloss.
Adrian Eröd: Der baritonale Einspringer für den vorgesehenen Tenor Benjamin Bruns bot die vielleicht herausragendste Leistung des Abends. Glasklar Stimme und Diktion, auch die tenoralen Herausforderungen (immerhin drei A hat er zu bewältigen) gelangen perfekt. Die jünglingshaft-naive Lichtgestalt gelang ihm auch darstellerisch absolut glaubwürdig.
Simon Keenlyside: Er war vor nicht allzu langer Zeit noch der Pelleas (z.B. in Salzburg mit Angelika Kirchschlager unter Simon Rattle), jetzt ist er zum Halbbruder Golaud gewechselt – den er mit der ihm eigenen brennenden Intensität gestaltete. Es war aber unüberhörbar, dass ihm der Golaud über weite Strecken (noch) zu tief liegt, was zu hinunter gedrückten Tönen und damit auch zu einigen Kratzern in der tieferen Lage führte. Die Hochtöne kamen dafür brillant.
Olga Bezsmertna: Was sie in dieser Saison geleistet hat, grenzt ans Unglaubliche. Nach großen Abenden als Desdemona, Donna Elvira, Tatjana (‚Onegin‘) in kürzester Zeit nun die Mélisande. Stimmexperte Erich Seitter sei zitiert: „Ein heller, lyrischer Sopran von silbrig keuschem, mädchenhaftem Klang, ein fast instrumental anmutendes Stimmtimbre sind bei der Rolle der Mélisande gewünscht, um diese … feenhafte junge Frau … vokal zu realisieren.“ Das alles „derpackte“ die Bezsmertna annähernd ideal. Eine „ätherische“ Ausstrahlung auch noch verlangen zu wollen, grenzt an Vermessenheit. Wer nach der legendären Uraufführungssängerin Mary Garden (siehe Bild!) hat die schon gehabt?
Maria Nazarova: Ihr Yniold war ein Ereignis der besonderen Art. Szenisch aufgewertet (und Marelli hat ihr quirliges Naturell ausgenützt!) war sie schon im stummen Spiel von bühnenbeherrschender Präsenz. Sie vermochte ihrem quellfrischen Sopran jungenhafte Farbe zu geben – auch mit einer Kraft, die Sängerknaben dann oft nicht haben, um diese schwierige „Kinderrolle“ auch ausfüllen zu können.
Marcus Pelz: Der allzeit verlässliche Ensemblesänger war auch als abgeklärter Arzt ein Aktivposten.
Vielleicht gelingt es, nach diesem neuerlichen Anlauf, Debussys Meisterwerk länger im Repertoire zu halten. Diese „3. Aufführung in der Inszenierung von Marco Arturo Marelli“ wurde vom Publikum lebhaft akklamiert. Bravorufe für Eröd, Bezsmertna, Keenlyside, Selig, Fink und Nazarova. Der Dirigent Altinoglu und das Orchester wurden ebenfalls gefeiert.
Vier Aufführungen des ‚Pelleas‘ in der nächsten Saison: 12./15./18./21.10. 2017 (Dir.: Daniel Harding; Besetzung: Rose, Baechle, Richter, Keenlyside, Karg, Nazarova)
Karl Masek