Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
PARSIFAL – Stream vom 11. April 2021
Theatermusik statt Musiktheater!
Bei meiner letzten Rezension eines neuen Wiener „Parsifal“, der weitgehend misslungenen Inszenierung von Alvis Hermanis, schrieb ich, dass man allgemeinhin sagt, „es kommt nichts Besseres nach“. Ich bezog mich damals auf die Mielitz-Produktion, die sich im Wesentlichen mit der 2004 eigentlich schon überholten DDR-Aufarbeitung befasste, aber wenigstens einen spannenden und gelungenen 1. und in Teilen auch 2. Aufzug bot. Ich hatte allerdings nicht erwartet, dass ich nun in Bezug auf die Neuinszenierung von Richard Wagners Abschiedswerk an der Wiener Staatsoper in der Inszenierung des russischen Theater-, Opern- und Filmregisseurs Kirill Semjonowitsch Serebrennikow wieder an diesen Spruch denken muss. In seiner Produktion wird in erster Linie klar, dass Serebrennikow sicher ein guter Theaterregisseur und wohl auch einen guter Filmregisseur mit viel Fantasie ist. Bei der Opernregie scheint es jedoch zu hapern, zumindest bei Wagner (immerhin sein erster und dabei gleich einer der schwersten!), ganz sicher aber bei dessen Bühnenweihfestspiel „Parsifal“. In dessen Musik und Handlung hat der Bayreuther Meister alles hineininterpretiert und -komponiert, was ihm zu seinem Leben als revolutionärem Opernkomponisten am Herzen lag, unter besonderer Betonung des von ihm in besonderer Form konzipierten musiktheatralischen Gesamtkunstwerks. Der Regisseur stellt selbst in einem Interview fest: „Ein Theaterstück ist nichts anderes als schwarze Buchstaben auf weißem Papier. Du betrittst die Probebühne, du führst nichts mit dir und musst ein Theaterstück aus der Luft gebären. Aber bei einer Operninszenierung beginnst du immer mit einem großen Brocken, der Musik heißt.“
Das wird in seiner Deutung des „Parsifal“ meines Erachtens gut sichtbar, für den Serebrennikow mit dem Dramaturgen Sergio Morabito auch das Bühnenbild und die Kostüme schuf. Denn, obwohl ich nun doch schon recht viele sog. Regietheater-Produktionen – gerade bei Wagner – erlebt habe, habe ich noch nie einen solchen Dissens zwischen Musik und dem mit ihr implizit verbundenen Text einerseits, sowie der Handlung andererseits gesehen und gehört. Und dazu kommt die eigenwillige und die ganze Breite der „Parsifal“-Thematik ungeheuerlich einengende Sichtweise auf den Gral als einem Gefängnis unserer Tage mit Wachposten mit Batches und Gummiknüppeln, mit denen auch immer wieder gedroht wird. Darüber ließe sich lange diskutieren. Keinesfalls sind die Gralsritter Gefangene, wenn man den Glauben an etwas – hier die Wirkungen des Grals, wie immer man dazu stehen mag – nicht sofort mit Gefangenschaft gleichsetzen will. Immerhin reiten sie, wie bekanntlich Lohengrin nach Brabant, immer wieder aus, um der aus dem Ruder geratenen Welt Gutes zu tun, zum Recht zu verhelfen und Konfliktlösungen anzubieten.
Bei Serebrennikow schaffen es die leichteren Gefangenen gerade mal auf den Gefängnishof zum morgendlichen Fitness-Training – natürlich während des Vorspiels, das ja wohl allein kaum auszuhalten wäre. Die schweren Gefangenen im oberen Stock kommen erst frei, wenn Parsifal das ganze Gefängnis befreit hat, aber immerhin gibt es jetzt schon Zigaretten, die mit den Wachposten geschmuggelt werden oder die die Journalistin Kundry vom Klingsor-Magazin „Das Schloss“, fesch im kurzen Trenchcoat, vorbeibringt. Dafür darf sie auch ein paar Action-Fotos, auch unappetitliche, machen, die dann sicher in die nächste Nummer kommen werden. Fast noch grotesker wird die Entfremdung von Text und Handlung, wenn Gurnemanz erscheint und singt „He! Ho! Waldhüter ihr, Schlafhüter mitsammen, so wacht doch mindest am Morgen!“ Noch nie hat man wachere „Knappen“ auf der Wagner-Bühne erlebt! Parsifal ist natürlich schon die ganze Zeit da, recht depressiv wirkend. Er bekommt aber in dem Moment, als der „Schwan“ erlegt wird – von ihm jedenfalls nicht – ein double, den „damaligen“ Parsifal, den beherzt agierenden Schauspieler Nikolay Sidorenko, der alle etwas mehr Körpereinsatz erfordernden Aktionen und Ähnliches vollzieht, insbesondere den mehr als heftigen Kuss mit Kundry.
Nikolay Sidorenko, Elina Garanca. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Die Auslagerung von Handlung, Emotionen aller Art, bis hin zu Schmerz, auf zweite Figuren, die vom Komponisten nicht vorgesehen sind, da sie alles in der jeweiligen Hauptfigur theatralisch und musikalisch konzipiert haben, macht nun immer mehr Schule. Zuletzt sah ich es ebenso wenig überzeugend, wie nun in Wien, bei „Tristan und Isolde“ in Hannover 2020, wo die Emotionen und das Leiden beider Figuren auf ein japanisches Butoh-Tanz-Paar ausgelagert wurden, während Tristan vor allem im 3. Aufzug munter von einer Sitzgelegenheit zur anderen wechselte. Wie grenzwertig das nun auch bei Serebrennikow war, kam insbesondere in dem Moment zum Ausdruck, als Jonas Kaufmann, kaum den Kuss Kundrys mit dem „damaligen“ Parsifal gewahrend, wie auf Knopfdruck sein berühmtes „Amfortas! Die Wunde! Die Wunde! Sie brennt in meinem Herzen“ ausruft. Was für ein Verlust, diesen Moment höchster Emotion nicht von dem begnadeten Sängerdarsteller Kaufmann selbst erleben zu dürfen! Eigentlich wird einem mit diesem völlig überflüssigen Manierismus ein wesentlicher Teil des Opernlebnisses vorenthalten, ja man könnte sogar sagen, weggenommen!
Es gäbe etliche weitere Beispiele für den Dissens zwischen Wagners Text und Musik und der Handlung bei Serebrennikow: das Tätowieren der Gefangenen durch Gurnemanz, statt Aufmerksamkeit für die Gralsgeschichte zu gewinnen; das Auspacken des Gralskelchs (man staune!) aus einem Pappkarton (DHL oder UPS?) und seine Erhebung – immerhin einmal zur entsprechenden Musik – durch einen bewaffneten Wachbeamten; Klingsor und Kundry im 2. Aufzug an PCs mit Kaffee aus dem Pappbecher; leider auch wieder die mittlerweile postmoderne stereotype Putzkolonne in Klingsors Redaktion; wozu auch die mittlerweile schon unglaublich langweilig wirkenden Bürostühle in großer Menge zählen; das Verkommen des Speers – OK, er passt hier nicht – zu einem schwarzen Eisenrohr; und die Prügeleien unter den Gefangenen alias Gralsrittern vor dem finalen Monolog des Amfortas!
Lassen wir es dabei, es gäbe noch viel mehr. Serebrennikow sagt im selben Interview weiter: „Und du arbeitest mit dieser Musik, die alles Mögliche, jede beliebige Leerstelle ausfüllen kann.“ Ich glaube, er hat mit dieser Musik recht wenig gearbeitet und sie allenfalls dazu benutzt, wozu er sie hilfreich sieht, nämlich um „Leerstellen auszufüllen“. Das wird aber Wagners Abschiedswerk bei weitem nicht gerecht, auch wenn man wohlwollend in Rechnung stellen mag, das Serebrennikow derzeit unter fragwürdigen Begründungen im Gefängnis sitzt. Dies reicht aber meines Erachtens nicht aus, eine ganz persönliche Situation, so unglücklich sie auch sein und empfunden werden mag, nun über ein solch großes und um etliche Dimensionen reicheres und vielfältigeres Werk zu stülpen, Wagners „Parsifal“.
Im 2. Aufzug sind Serebrennikow dazu durchaus einige gute Ideen und Momente gelungen. Wenn einmal alle Bürodamen alias Zaubermädchen und Putzfrauen weg sind, kommt es zu intensiven Szenen zwischen dem „damaligen“ Parsifal und Kundry mit äußerst beeindruckender Mimik bei Elina Garanča, zumal nach ihrem „Und lachte!“, sowie dem begleitenden Jonas Kaufmann. Hier kommt es einmal nachdrücklich zu Verbindung von Musik und Handlung, was aber auch dem Schauspieltalent einer Elina Garanca geschuldet ist. Dass sich am Ende die alte Liebe zwischen Amfortas und Kundry wieder einstellt, ist menschlich ebenfalls nachvollziehbar und berührend. Auch die Idee mit dem Auftritt von Herzeleide in Kundrys Herzeleide-Erzählung ist interessant, auch wenn sie dem Jungen allzu profan, aber zum Ganzen passend, ein Paar Markenturnschuhe bringt. So macht die Einführung nicht vorgesehener stummer Rollen Sinn. Warum es aber gleich drei Herzeleides sein müssen, erschloss sich mir nicht. Man dachte an die Nornen…
Nun ist Serebrennikow auch noch Filmregisseur und bewies dies nachhaltend mit seinem „Parsifal“. Am oberen Bühnenrand hängen drei große Leinwände, auf die – und nun kommt’s – von Aleksei Fokin und Yurii Karih fast ständig Szenen aus dem trostlosen Leben anderer Gefängnisinsassen gezeigt werden, meist in ihren Schlafkojen. Immer wieder werden ihre Tattoos betont, die Gefangenschaft durch Stacheldraht, aber auch Zeichen aus der Grals-Mythologie wiedergeben. Meist haben diese Szenen wenig mit dem Bühnengeschehen zu tun. Interessant und eindrucksvoll ist jedoch die filmische Begleitung der Irrfahrt des „damaligen“ Parsifal durch verkommene winterliche Landschaften nach Montsalvat. Die immer wiederkehrenden Sequenzen einer völlig verfallenen griechisch-orthodoxen Kirche insinuieren Assoziationen zum Zustand einer „normalen“ Gralsgesellschaft. Diese Bilder haben Fallhöhe. Dennoch stellt sich mir einmal mehr die Frage, ob die Oper immer mehr zum Film werden sollte oder nicht. Meines Erachtens nimmt die Mischung beider Kunstformen langsam überhand. Eine gezielte und zum Stück passende Personenregie, die natürlich eine große Kenntnis des Stücks und viel Arbeit bedingt, wäre besser.
Es hat sich bei dieser Produktion einmal mehr gezeigt, dass man Wagners „Parsifal“ nicht um jeden Preis in das Heute ziehen hann, so löblich die Motivation für solche Experimente auch sein mag. Das Stück hat nun mal einen sehr tiefgründigen und mit Fragen der Religionen verbundenen philosophischen Gehalt. Harry Kupfer hat in seiner bestechenden Inszenierung von Helsinki gezeigt, wie man beides bis zu einem gewissen Grade stilistisch vereinigen kann. Und Roland Aeschlimann zeigte mit seinem großartigen Genfer „Parsifal“ von 2004, wie man den Mythos in diesem Werk mit beeindruckenden technischen Mitteln spannend, farbig und auch heute noch nachvollziehbar zeigen kann. Dessen sollte sich kein Regisseur schämen, es steckt nun mal in diesem Werk. Das große Kreuz, das Amfortas im 2. Aufzug (!) in Klingsors Redaktion von der Wand nimmt und zwischen die Bürotische positioniert, sowie die kleinen Kreuze mit Darstellungen des Gekreuzigten in den Händen der alten Frauen und Kundry im 3. Aufzug wirken eher wie Feigenblätter für einen unterdrückten Interpretationsaspekt als für echte Insignien eines Um- oder Andersdenkens. Für die Gefängnis-Problematik hätte sich Verdis „Nabucco“ sicher besser geeignet, vielleicht auch Beethovens „Fidelio“. Wir Wiener Opern- und Wagnerfreunde müssen nun wohl mindestens zehn Jahre mit diesem „Gefängnis-„Parsifal“ leben. Vielleicht regt er das Geschäft der Fitness-Studios an, in denen die Opernbesucher ja nicht zur wichtigsten Klientel gehören…
Musikalisch befanden wir uns mit der Stabführung von Philippe Jordan auf einem ganz anderen Dampfer, auch wenn der Stream hier nur ein begrenztes Urteil zulässt. Er entwickelte mit der ganzen Erfahrung seiner „Parsifal“-Dirigate in Bayreuth das Stück mit viel Feinfühligkeit und Gespür für die Finessen der Partitur, die großen Themen, die Zwischentöne und die Einbindung der Sänger in das musikalische Gewebe. Natürlich kennt das Orchester der Wiener Staatsoper den „Parsifal“ aus dem ff, aber es ist Jordan zu bescheinigen, hier viel intensiver und facettenreicher am Werk zu sein als beispielsweise bei der „Madama Butterfly“ zu Beginn der Saison. Dass die aus dem Graben wunderbar erklingende Musik, und ich denke, das kann man trotz des Streams bedenkenlos sagen, meist nichts mit dem Geschehen auf der Bühne zu tun hatte, war nicht Jordans und des Orchesters schuld. Der Chor der Wiener Staatsoper, einstudiert von Thomas Lang, war wie immer ein asset. So wurde es eher ein Theaterstück mit sehr guter Musikbegleitung, also Theatermusik statt Musiktheater!
Jonas Kaufmann, Nikolay Sidorenko, Elina Garanca. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Jonas Kaufmann ist natürlich ein guter Parsifal. Kaum einer wird diese Rolle heute mit mehr Intensität und auch mimisch verkörperter Inbrunst darstellen als er. Stimmlich kann er mit seiner großen Musikalität ebenfalls viele Facetten der Partie ausloten. Jedoch ist unverkennbar, dass die Stimme immer baritonaler wird und bei den großen emotionalen Ausbrüchen im 2. und 3. Aufzug auch an ihre Grenzen stößt. Es fehlt an tenoralem Schmelz. Einen Tristan konnte ich jedenfalls nicht hören. Elina Garanča gibt ein glänzendes Rollendebut als Kundry mit ihrem eher hellen Mezzo, der ideal für die Rolle ist. Zudem ist sie, wie schon gesagt, darstellerisch sensationell. Georg Zeppenfeld ist ein exzellenter Gurnemanz, mit prägnantem und ausdrucksstarkem Bass sowie in jeder Situation perfekter Diktion. Zweifellos einer der besten seines Fachs! Ludovic Tézier debutiert als Amfortas und bringt in diese Partie seine baritonalen Klangfarben aus dem italienischen und französischen Fach ein. Das ermöglicht ihm eine sehr klangvolle Interpretation der Rolle, zu der auch darstellerische Kompetenz hinzukommt.
Elina Garanca, Wolfgang Koch. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Wolfgang Koch ist ebenso beeindruckend als Klingsor, zu bedauern aber für sein Spießer-Outfit und seine in die totale Banalität verfrachtete Rolleninterpretation. Er trägt vokal alle Facetten des Klingsor vor. Dass er am Ende von Kundry erschossen wird, ist ungewöhnlich, aber aus dem Geschehen heraus nachvollziehbar. Stefan Cerny ist ein klangvoller Titurel aus dem Off. Im Finale kommt er nur noch als Urne vor, mit deren Asche Amfortas in seinem finalen Monolog die Gefangenen abschreckt. Der 1. Gralsritter Carlos Osuna, 2. Gralsritter Erik Van Heyningen, 1. Knappe Patricia Nolz, 2. Knappe Stephanie Maitland, 3. Knappe Daniel Jenz, 4. Knappe Angelo Pollak und die Blumenmädchen Ileana Tonca, Anna Nekhames, Aurora Marthens, Slávka Zámečníková, Joanna Kędzior und Isabel Signoret singen alle einwandfrei in ungewöhnlich profaner Aufmachung.
Nach recht kurzer Zeit in Wien wieder ein neuer „Parsifal“, der für mich weit hinter den Erwartungen zurückbleibt.
Klaus Billand