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WIEN/ Staatsoper: PARSIFAL – Premiere vor Publikum am 15.12.2021

Wiener  Staatsoper „Parsifal“, Premiere vor Publikum am 15.12.2021

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Anja Kampe. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn

Weihnachten ist der Anfang von Ostern – aber soviel theologische Gewitztheit würde ich hinter der Programmplanung der Wiener Staatsoper doch nicht vermuten. Jedenfalls kam der neue „Parsifal“ jetzt auch zu seiner Premiere vor Publikum – und das Haus war sehr schlecht besucht.

Ob der „Parsifal“ zu Ostern gehört wie Schinken und Ei, so man vor Jahren in der Rezension einer Tageszeitung lesen konnte*, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Eine leichte Ironie wird bei diesem Vergleich sicher mitgeschwungen haben. Immerhin ist der Karfreitag ein nicht unwesentlicher Bestandteil des „Parsifal“, und es ist schwer, einen direkten Bezug zu Weihnachten herzustellen. Kundry bringt im ersten Aufzug dem leidenden Amfortas bekanntlich keine Vanillekipferl vorbei.

Wie eingangs erwähnt, war das Haus sehr schlecht besucht, etwa zur Hälfte gefüllt – und das ohne besondere pandemische Einschränkungen, die meines Wissens nur die maximale Besucheranzahl auf 2.000 festlegen. Auf der Galerie waren großzügig geschätzt keine 200 Plätze belegt, auch im Parterre und auf dem Balkon – soweit ich es einsehen konnte – wies die Platzbelegung zum Teil erhebliche Lücken auf, sogar einige Logen waren ganz leer geblieben. Die Gründe? Man wird zuerst natürlich COVID nennen und die FFP2-Maskenpflicht, den Wochentagstermin und die stressige Vorweihnachtszeit – außerdem ist die Produktion bereits im April unter Lockdown-Bedingungen als Premiere ohne Publikum gestreamt worden (nur einer Handvoll an Medienvertretern war damals die persönliche Anwesenheit im Haus gestattet).

Die letzte „Parsifal“-Produktion an der Staatsoper (Regie: Alvis Hermanis) stand nur vier Jahre in Amt und Würden und sie spielte auf der Psychiatrie – jetzt ist die Psychiatrie zum Gefängnis  geworden. Der russische Theatermacher Kirill Serebrennikov, der diese Neuproduktion konzipiert hat, schreibt im Programmheft zur Aufführung, der „Parsifal“ sei „dystopisch“, die Figuren hätten alle Liebe und Hoffnung verloren und würden versuchen, sich eine neue eklektische Religion zu schaffen. Serebrennikov arbeitet szenisch einerseits mit einem grellen, an den Film angelehnten Naturalismus andererseits versucht er durch die Verdoppelung der Hauptfigur, eine „Erinnerungsspur“ zu legen, der man im weitesten Sinne noch eine mythische Qualität zugestehen könnte. Er nimmt für seine dystopische Sicht der Dinge allerhand Widersprüche zum Libretto und zur Musik in Kauf. Am drastischsten zeigt sich der Widerspruch zwischen seiner Sicht und Wagners Wollen im zweiten Aufzug, wenn Kundry Klingsor erschießt. Im mythischen Weltzusammenhang, den Wagner konstruiert, ist das ein Ding der Unmöglichkeit.

Aber um nicht zu sehr ins Detail abzuschweifen, möchte ich nur einige Punkte herausgreifen: Die schon angesprochene Verdoppelung des Parsifal nimmt den Sänger der Hauptfigur zu oft aus der Handlung, schiebt ihn an den Rand. Sie schafft eine szenischen Schwachpunkt, den man ganz unabhängig von der ideellen Konzeption bekritteln kann. Damit ist die Erinnerungsperspektive verknüpft, die Parsifal einnimmt: Parsifal erinnert sich an seine Jugend, an seine Zeit im Gefängnis, zieht eine Bilanz seines Lebens. Dieses retrospektive Element gibt es bei Wagner nicht in dieser Form. Es bringt eine Reflexionsebene ins Spiel, an der sich die Handlung bricht. Es ist rezeptionsgeschichtlich verständlich, dass man die werkimmanente Sicht für „verdächtig“ hält. Wagner sucht ein kritikloses Publikum, das er überwältigen kann. Er zielt auf ein gleichsam religiöses, unhinterfragtes Kunsterlebnis – und das würde nicht funktionieren, wenn er eine Ebene der Reflexion zuließe. 

Insofern ist es aus Sicht Serebrennikovs konsequent, wenn er die von Wagner eingeplanten „Bühnenwunder“ nahezu negiert. Die „Zeit“ wird in dieser Produktion nicht zum „Raum“, sondern bleibt hinter Gittern eingesperrt. Der Karfreitagszauber im Speisesaal der Haftanstalt riecht nach blassen Blumenbuketts und Gefängniskernseife. Das schürt keinen Enthusiasmus. Die Hoffnung, die den Gefangenen bleibt, ist so dünn wie ein Sonnenstrahl, der durch das Schlüsselloch einer  Kerkerzelle fällt. Aber immerhin gibt es am Schluss doch noch so etwas wie „Hoffnung“. Nur Parsifal bleibt zurück und erinnert sich. Der Gralskönig hat abgedankt.

Aber selbst wenn man sich mit von Rittergeschichten schwafelnden Strafgefangenen noch anfreunden könnte und mit dem kurz gezeigten, aus einem Karton gepackten, schäbigen Gralskelch –wie hält man es mit dem zweiten Aufzug? Die Szene zeigt unvermutet einen Zeitschriftenredaktion. Chefredakteur Klingsor schüttet Kundry mit heißem Kaffee an und Kundry schreit. Diese ist Journalistin, fotografiert gerne brutalerotische junge Sträflinge und leidet an einem religiösem Wahn. Sie faselt sogar davon, den Erlöser ausgelacht zu haben. Der Parsifal-Doppelgänger zeigt kurz seinen nackten Hintern und posiert vor Redaktionsassistentinnen und Reinigungsfachkräften. Es gibt ein Fotoshooting vor einem stilisierten Kreuz. Der Auftritt von drei Herzeloyden und Kundrys Versuch, den Doppelgänger auf dem Redaktionstisch zu verführen, verschiebt die Handlung endgültig ins Groteske.

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Anja Kampe, Brandon Jovanovich, Wolfgang Koch. Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Noch ein Vergleich von Stream und Aufführung vor Ort: Der Stream war als filmische Adaption überzeugender. Warum? Die Videos, die im Haus auf drei schmalen Flächen an der oberen Bühnenrampe projiziert werden, wurden je nach Szene formatfüllend eingeblendet. Diese Videos verdeutlichen zum Beispiel, dass Serenbrennikov Wagners Symbolik (Schwan, Speer usw.) in den Tätowierungen der Gefangenen aufleben lässt. (Gurnemanz tätowiert ihnen seine Geschichten – ein in diesem szenischen Umfeld naheliegender Gedanke). Es gibt einige stimmungsvolle Landschaftsaufnahmen, die den Naturaspekt hineinbringen, der auf der Bühne weitgehend fehlt – oder die wehmütige Kirchenruine im Schnee, durch den Parsifal mühselig wandert. Im Haus der Aufführung beiwohnend schaut man allerdings automatisch auf die Bühne, die Videos als zweite szenische Präsentationsebene der Inszenierung rutschen zu oft unter die persönliche Wahrnehmungsschwelle. Die Nahaufnahmen im Stream haben einem zudem die Charaktere der Figuren viel besser verdeutlicht, lenkten den Blick auf möglicherweise interessante Details, die in der Bühnentotale untergehen.

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Anja Kampe, Nikolay Sidorenko, Brandon Jovanovich. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn

Das Staatsopernorchester unter Philippe Jordan, spielte auf sehr hohem Niveau, sehr klangschön, mit flottem erstem Aufzug, aber ohne innere Spannung. Es war insgesamt eine viel zu leidenschaftslose Aufführung: eine Klangtapete mit sehr ansprechendem, aber etwas flachem Muster, das mehr begleitend bebilderte als ausdeutete. Brandon Jovanovich hatte als Parsifal vielleicht keinen guten Tag, jedenfalls wenig Höhe, und arbeitete sich, wenig Begeisterung erweckend, durch die Partie. Anja Kampes Kundry kämpfte mit starker Emotionalität und etwas forcierter, unsteter Stimme gegen ihre seltsame Rolle in dieser Inszenierung an, die stark an der Glaubwürdigkeit der Figur nagt. Obwohl Jordan nach dem „ich lachte“ gefühlte Minuten lang „Pause“ machte, stellte sich bei mir keine Spannung ein. Dieser zweite Aufzug wurde in der Vergangenheit schon viel packender erzählt.

Georg Zeppenfeld sang einen wortdeutlichen, aber zu „heruntergedimmten“ Gurnemanz – so wie wenn er als graue Eminenz des Gefängnisses nicht zu viel Aufhebens um seine Stellung und sein Wissen machen möchte. Wolfgang Koch war ein sehr respektabler Amfortas und (!) Klingsor. Sich am selben Abend vom drastisch leidenden Gefängnis-Amfortas in einen schmierigen, unappetitlichen Chefredakteur zu verwandeln, ist auch eine Kunst. Es gab im Vorfeld Umbesetzungen, Zeppenfeld ist für René Pape eingesprungen. Die Besetzungslisten sind derzeit sehr „volatil“. Natürlich darf man nicht vergessen, den einsatzfreudige Chor zu nennen und – diesmal als Kollektiv – all die Knappen und Blumenmädchen sowie Wolfgang Bankl als Titurel.

Nach dem ersten Aufzug und nach dem  zweiten Aufzug gab es einige Buhrufe und einige Bravos, ganz kurz tobte ein kleiner Meinungsstreit. Vor dem dritten Aufzug gab es einen Zwischenruf, mir akustisch schwer verständlich, der sich auf die Inszenierung bezog. Eine antwortende Stimme meinte, besagter Zwischenrufer solle nach Hause gehen. Nachdem man sich derart Freundlichkeiten ausgetauscht hatte, ging die Vorstellung ohne weitere Missfallensäußerungen zu Ende. Am Schluss folgte dankbarer, auch mit Bravorufen angereicherter Beifall, grob geschätzt um die sieben Minuten lang, am stärksten für Dirigent und Orchester. Dass sich jemand vom Regieteam zeigt, war ohnehin nicht zu erwarten gewesen. Serebrennikov hat die ganze Inszenierung per Videoschaltung von Russland aus leiten müssen. Seine dystopische Sicht der Dinge gründet sich stark auf persönlichen Erfahrungen.

Aber wie wird es weitergehen? Inzwischen steht eine neue, infektiösere COVID-Mutante vor der Tür. Mit dem nächsten Lockdown muss gerechnet werden. So erleidet der ganze Kulturbetrieb derzeit seine zweite zusammengeflickte Saison – und das Publikum leidet mit. Wenn es Menschen schwer fällt, sich unter solchen Voraussetzungen für eine „Parsifal“-Dystopie zu erwärmen, ist das eine Überraschung?

* siehe: DIE PRESSE, Printausgabe vom 3. April 2010

Dominik Troger (www.operinwien.at)

 

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