Wien / Staatsoper: PALESTRINA – Wiederaufnahme der Inszenierung von Herbert Wernicke
5. Dezember 2024 – Premiere
Von Manfred A. Schmid
Merkwürdig: Als ich im Frühjahr vernahm, dass die Wiener Staatsoper eine Wiederaufnahme von Hans Pfitzners Musikalischer Legende in drei recht unproportionierten Akten auf dem Spielplan hat, war die Freude wie auch die Überraschung groß. Ich sah sofort Hans Zednik vor mir, wie er als wichtigtuerischer Kardinal Novagerio im Gespräch mit Kardinal Morone im zweiten Akt über Kollegen herzog, Pläne und Allianzen erwog und verwarf und sich als quirlig routinierter Intrigenschmied auszeichnete. Eine Rolle, die ihm besonders lag, wie er etwa auch als unübertrefflicher Loge in Rheingold bewies. Erst in einem zweiten Schritt tauchten Assoziationen zum ersten Akt auf, der bekanntlich mit 100 Minuten durchaus Wagnerische Dimensionen aufzuweisen hat und damit so lange dauert wie Puccinis La Bohème ohne Pause. Er liefert die Ausgangsbasis der Handlung: Der berühmte Kirchenmusiker und Komponist Giovanni Pierluigi da Palestrina hat seit dem Tod seiner Frau keine Note mehr geschrieben. Nicht nur, weil ihn dieser Verlust in eine schwere existenzielle Krise gestürzt hat, sondern auch, weil er für seine Art der Musik keine Zukunft mehr sieht. Die Polyphonie ist dabei, von der in Florenz erfundenen „Eintönigkeit“ – mit Akzent auf der führenden Melodie – abgelöst zu werden. Auch sein begabter Schüler Silla ist von dieser neuen Mode bereits infiziert, trällert eine Komposition in diesem Stil vor sich hin und wird seinen Lehrer später auch in Richtung Florenz verlassen. Da taucht der Kardinal Boromeo bei ihm auf, tadelt Sillas Musik und bittet Palestrina, eine Messe in der alten Tradition zu schreiben, und damit deren Fortbestand zu gewährleisten. Beim bevorstehenden Konzil von Trident wolle Papst Pius IV nämlich die Abschaffung der polyphonen Kirchenmusik durchsetzen. Mit einer überzeugenden Messe aus Palestrinas genialer Hand könnte das verhindert werden. Als dieser das Begehren strikt ablehnt, stürmt der Kardinal erzürnt aus dem Musikzimmer des Meisters, der traurig verloren zurückbleibt. Da hat er plötzlich eine Vision: Die großen Meister der Vergangenheit erscheinen ihm und fordern ihn auf, mit der Komposition der Messe sein Lebenswerk zu vollenden und zu krönen. (In Herbert Wernickes Inszenierung aus dem Jahr 1999 wird allerdings insinuiert, dass der Kardinal Schauspieler bzw. Sänger damit beauftragt haben könnte.) Als schließlch auch noch Palestrinas verstorbener Frau Lucrezia und ein Chor von Engeln auftauchen, ist sein Widerstand gebrochen. Palestrina zieht Notenlinien auf das Papier, und in einer Nacht ist die ihm von geheimen Mächten diktierte Messe fertig. Erschöpft schläft er ein. Silla und seine Sohn Ighino sammeln am nächsten Morgen die verstreuten Notenblätter auf.
Bei der in den Jahren 1912 – 1915 entstandenem und 1917 in München unter der Leitung von Bruno Walter uraufgeführten Oper, zu der Hans Pfitzner auch das Libretto verfasst hat, kann man davon ausgehen, dass sich ihr Schöpfer mit Palestrina identifiziert. Sah jener das Ende der Polyphonie heraufdämmern, tritt Pfitzner in seinem Werk für die Bewahrung der Tonalität ein, die er von Neutönern und vor allem durch erste atonale Versuche bedroht sieht. Er ist der letzte Romantiker, auch wenn seine Musik eine Herbheit und Strenge ausstrahlt, was vor allem an der die Verwendung alter Kirchentonarten liegt. Von der Deutschtümelei, die ihn, einen bekennenden Antisemiten, dann in den 20er und 30er Jahren in eine ungute Nähe zum Nationalsozialismus bringen sollte, ist in diesem Werk freilich nichts zu vernehmen. Sein ausgeprägter Kulturpessimismus ist aber nicht zu übersehen. Das wird im zweiten Akt ganz offensichtlich, wenn er sich am Bespiel des Konzils daran abarbeitet, so eine Versammlung als eine Stätte zu zeigen, in der es in erster Linie um die Wahrung persönlicher wie auch regionaler und nationaler Interessen geht und nicht um das angeblich gemeinsame Wohl. Da erweist sich Pfitzner als bissiger, satirischer Autor. Die Gepflogenheiten und Methodem, die er aufzeigt, könnten durchaus auch auf heutige globale Meetings von Spitzenmanagerin übertragen werden. Es kommt allerdings sogar zu einer Rangelei, so dass die Session abgebrochen und vertagt werden muss. Die physischen Auseinandersetzungen finden dann bei der Dienerschaft ihre Fortsetzung. Doch das lässt der Gastgeber Bischof Madruscht gnadenlos die Garde aufmarschieren. Es gibt Tote, und den Überlebenden droht die Folter.
In Wernickes Inszenierung genügt ein einziger Schauplatz für alle drei Akte. Das geräumige Musikzimmer mit aufsteigenden Stufen wird zum Konzilsort. Die riesengoßen Orgelpfeifen im Hintergrund klappen auf: Zuvor zusätzlicher Platz für die Engeln, nun bis obenhin gerammelt voll mit weitere Konzilsteilnehmern, im dritten Akt dann der Ort für den Chor und die Musikern bei der grandiosen Uraufführung von Palestrinas neuer Messe, zu der auch der Papst in der Direktionslogen erscheint und sein Wohlgefallen kundtut.
Diesmal hat mich der dritte Akt am meisten bewegt. Der ruhige, um Jahre gealtert Palestrina, den Kardinal Borromeo wegen seiner Weigerung in den Kerker stecken ließ, erlebt den Jubel über sein Werk relativ gefasst. Wichtiger ist ihm die Beziehung zu seinem Sohn Ighino. Soviel Liebe und Zärtlichkeit liegt nun in der Musik, von der vorherigen Herbheit keine Spur. Die innige Weise einer Solvioline erinnert fast schon an Puccini. Tiefe Zufriedenheit, Demut und Dankbarkeit. Daran werde ich das nächste Mal wohl zuallererst denken, wenn von diesem als so sperrig geltenden Werk die Rede sein wird. Im Schlussakt zeigt auch der still-versonnene Palestrina, klangschön und mit herrlicher Wortdeutlichkeit gesungen vom amerikanischen Tenor Michael Spyres, worauf es im Leben wirklich ankommt. Herrlich und einnehmend an seiner Seite Kathrin Zukowski, die als Palestrinas Sohn Ighino ein berührendes Hausdebüt feiern kann. Da es – mit Ausnahme der Erscheinung von Palestrinas Frau Lukrezia, verkörpert von der wie immer in jeder Rolle stimmlich und darstellerisch präsenten Monika Bohinec – ansonsten neben Ighino nur noch zwei weitere Hosenrollen gibt, seinen auch diese angeführt: Patricia Nolz ist als Silla ein selbstbewusster angehender Komponist, Teresa Sales Rebordado aus dem Opernstudio ein Junger Doktor bei seinem ersten Bewährungsprobe, einem Konzil.
Alle Kardinäle, Bischöfe und weitere Würdenträger, die alle ihre eigenen Auftritte habe, wie auch die Kapellsänger, Meister und Engelstimmen würden es verdienen, genannt zu werden, was bei 39 Rollen einfach unmöglich ist. Erwähnt seien stellvertretend Wolfgang Koch als machtbewusster Kardinal Borromeo, Michael Laurenz als intrigant-geschwätziger Kardinal Novagerio, Michael Nagy für seine Gestaltung des tonangebenden Kardinals Morone sowie Günter Groissböcks imposanter Papst. Die physische Eskalation entzündet sich an der Forderung des spanischen Legaten Gaf Luna (Adrian Eröd), der auf einer Einladung der Protestanten zum Konzil besteht. Als Beispiel für die vielen Sänger, die gleich mehrere Rollen anvertraut bekommen haben, sei Clemens Unterreiner erwähnt, der neben seiner Hauptrolle als Ercole Severolus, gewissermaßen der Zeremoniär des Konzils, auch als Kapellsänger und Meister in Erscheinung tritt. Diese Oper ist ein Werk für das Ensemble, und die Leistung – Chor, Extrachor und Bühnenorchester inbegriffen – ist tatsächlich enorm.
Hinter dem Erfolg steht Christian Thielemann als Dirigent der Aufführung, der zwar auf Krücken daherkommt, das Orchester aber souverän und akzentuiert durch diesen einzigartige Tonkosmos von Hans Pfitzners geleitet und dabei die Gesangssolisten nie aus dem Blick verliert. Verdienter Jubel, weit über das übliche Maß hinausgehend. Eine Wiederaufnahme mit Zukunftsperspektive.