Kate Lindsey, Agneta Eichenholz. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
ORLANDO von Olga Neuwirth – Uraufführung am 8. Dezember 2019 in der Staatsoper
(Heinrich Schramm-Schiessl)
Im Mai dieses Jahres haben wir das 150-Jahr-Jubiläum des Hauses am Ring gefeiert. Welchen Stellenwert in der Geschichte des Hauses die Direktion von Dominique Meyer im Jahr 2069 anlässlich der 200-Jahr-Feier haben wird, wissen wir nicht. Ein Umstand wird allerdings sicher Erwähnung finden, nämlich, dass am 8.12.2019 erstmals die Uraufführung eines abendfüllenden Werkes einer Komponistin in diesem Haus stattgefunden hat.
„Orlando“ ist ein Auftragswerk der Wr. Staatsoper und basiert auf dem gleichnamigen Roman von Virginia Woolf. Es zeigt einmal einen Mann, dann wieder eine Frau auf einem Gang durch die Zeiten und Weiten. Da der Roman im Jahr 1928 endet, haben Olga Neuwirth und ihre Co-Librettistin Cathrine Filloux die Geschichte bis in die Gegenwart weiter erzählt und zudem eine Szene im Viktorianischen Zeitalter eingeschoben, die es im Roman nicht gibt. Wer ist nun Orlando? Neuwirth sieht ihn als einen Freigeist, der sich über die jeweiligen gesellschaftlichen Normen hinwegsetzt und sich für Freiheit, Gleichheit und Emanzipation einsetzt – also den ewigen Themen der Menschheitsgeschichte. Im „Prolog“, dem Staatsopernmagazin bezeichnet sie „Orlando“ als ihr Opus summum, also ein Werk, das alles – also Musik, Mode (Kostümdesign von einer japanischen Modedesignerin), Text, Bühne und Video – zu einer grossen kümstlerischen Einheit verschmilzt.
Soweit die Theorie. Aber wie sieht es mit der Praxis aus? Wie so oft, ist die Theorie das Eine und die Praxis das Andere. Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Umsetzung nicht funktioniert hat. Was haben wir an diesem Abend gesehen? Sicher kein multimediales Welttheater, denn für ein solches fehlte Entscheidendes, nämlich schlichtweg die Dramaturgie. Vielleicht könnte man das Werk, zumindest was den ersten Teil betrifft, als szenisches Oratorium bezeichnen, oder vielleicht besser noch als Spieldokumentation. Wir kennen dieses Format aus dem Fernsehen. Da werden Bilder und Filme zu einem bestimmten Thema mit einer Sprechstimme unterlegt und manche Momente durch Spielszenen verstärkt. Die Erzählung und die dazugehörigen Bilder, die auf die diversen Bühnenbildelemente projeziert wurden, konnte man akzeptieren, aber die Spielszenen blieben eher beiläufig und weitestgehend wirkungslos. Waren im ersten Teil, der den Roman von Virginia Woolf als Vorlage hat, noch Spurenelemente einer Handlung zu finden, so war der zweite Teil nur mehr öde. Dieser wurde nämlich von der Komponistin und ihrer Co-Autorin neu dazu erfunden. Die beiden Damen mögen vieles sein, Dramaturginnen sind sie nicht. Im ersten Abschnitt, der von 1914 bis in die 1990er-Jahre reichte, geschah praktisch nichts, im mittleren Abschnitt vermeinte man sich in einer Innenstadt-Disco zu befinden und die letzten 45 Minuten waren reines Behlehrungstheater, wie wir es in der letzten Zeit an verschiedenen Bühnen zur Genüge geboten bekommen. Da war alles hineingepackt, was heute envogue ist, von #MeeToo bis „Fridays for future“.
Ein ähnliches Problem ist die Musik. Ich bin überzeugt, dass Olga Neuwirth ihr Handwerk bestens beherrscht, aber für ein musikdramatisches Werk fehlt ihr einfach die sogenannte Theaterpranke. Wie so oft in Opern des 20. und 21. Jahrhunderts plätschert die Musik in einem Einheitsklang mal laut, mal leise dahin, oft in langen Bögen durch die Streicher, dann wieder in rythmischen Elementen mit Bläsern und dem Schlagwerk. Das Entscheidende ist, dass sie die Handlung nicht reflektiert bzw. verstärkt. Die Gesangsstimmen sind zwar schwierig, aber nicht so extrem (Intervallsprünge u.ä.) wie in anderen Opern. Am ehesten überzeugen noch die choralartigen Chorpassagen im ersten Teil.
Leider ist die Aufführung selbst alles andere als überzeugend. Eine Regie (Polly Graham) ist praktisch nicht vorhanden, was man auf der Bühne sieht ist bestenfalls ein Arrangement. Das Bühnenbild von Roy Spahn beschränkt sich auf Paneele, auf die die Videos (Willi Duke) projeziert werden und ein paar Versatzsstücke. Die Ausführung der etwas bunt gemischten Kostüme stammt von Comme des Garcons.
Das beste des Abends war noch die musikalische Umnsetzung. Matthias Pintscher, selbst Komponist, hat das Orchester sehr gut einstudiert. Das Orchester war trotz der Irritationen im Vorfeld durch das in meinen Augen sachlich durch nichts begründete Verlangen der Komponistin nach einer tieferen Stimmung mit voller Konzentration am Werk. Der von Thomas Lang, Stefano Ragusini und Svetlomir Zlatkov einstudierte Chor klang vor allen Dingen in den Choralsequenzen sehr gut. Die Band war, soweit ich das beurteilen kann, ebenfalls gut.
Anna Clementi, Kate Lindsey. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Die Titelrolle wurde von Kate Lindsey, soweit dies angesichts der dramaturgischen Mängel möglich war, durchaus eindrucksvoll gestaltet. Sie bemühte sich die Klanggirlanden so präzis wie möglich zu singen, blieb allerdings darstellerisch blass. Anna Clementi gestaltete die wichtige Rolle des Narrators durchaus kompetent. In weiteren wichtigen Rollen konnten der Countertenor Eric Jurenas als Guardian Angel, Agneta Eichenholz (Sasha undChastity) sowie Leigh Melrose (Shelmerdine und Greene) gefallen.
Eine Nachhaltigkeit möchte ich diesem Werk nicht prophezeien, es wird vielmehr eine Erweiterung der Opernführer sein.
Am Ende gab es viel Applaus für die ausführenden Künstler, die Komponistin und ihre Co-Autorin wurde von ihrer Anhängerschaft bejubelt, wobei sich in diesen Jubel auch nicht zu überhörende Buh-Rufe mischten.
Heinrich Schramm-Schiessl