Georg Nigl, Daniel Johansson. Foto: Wiener Staatsoper/ MichaelPöhn
WIEN/Staatsoper: Manfred Trojahns „OREST“ mit Georg Nigl in der Titelrolle
Spezialist für Opernfiguren am Rand des Abgrunds
17.11. 2019 (Karl Masek)
Georg Nigl: Wiener des Geburtsjahrgangs 1972, Solist bei den Wiener Sängerknaben mit etlichen Auftritten als einer der Knaben in der „Zauberflöte“ an der Wiener Staatsoper. Schüler der legendären Hilde Zadek, der er alles verdankt, was er sängerisch ist, wie er bei vielen Gelegenheiten betont. Kein Vertreter des puren Schöngesangs, kein Samt- oder „Rotweintimbre“, wie er in einem Interview vor seinem „Orest“-Rollendebüt in Zürich zitiert wird. Aber einer, der als Spezialist für radikale Grenzgänger-Figuren, immer am Rand des Abgrunds, gilt.
Zwischen Monteverdi und Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“, zwischen Bachs Kantaten und Alban Bergs „Wozzeck“, zwischen Schubert-Liedern und Luigi Dallapiccolas „Gefangenem“, bewegt er sich. Gebrochene, verrückte Charaktere zumeist, aber auch groteske, wie der Teufel, „der sich an der Welt erkältet“. Den hat er vor knapp einem Jahrzehnt in Peter Eötvös‘ „Die Tragödie des Teufels“ an der Bayerischen Staatsoper verkörpert (Der Schreiber dieser Zeilen war damals dabei). Oder die Spielmacher auf der Bühne wie den „Papageno“, mit spätem Staatsopern- Rollendebüt, am 23.12. 2016. Dafür spielt und singt er sich die Seele aus dem Leib.
Und jetzt der „Orest“ des Manfred Trojahn. Dieses Wiener Rollendebüt war geradezu zwingend logisch. Schließlich ist ihm auch diese „Extremistenrolle“ nicht neu. Der Spross einer blutrünstigen Familie, dem quasi von seinem Über-Ich, dem Gott Apollo, vorgeschrieben wird, was er zu tun hat. Schwester Elektra, der vermeintliches Recht, vermeintliche Gerechtigkeit, über alles geht, zwingt ihn nach dem Muttermord an Klytämnestra auch noch zur Hinmetzelung der „Schönen Helena“. Er hat die Figur bereits 2017 im Opernhaus Zürich in der Inszenierung des Hans Neuenfels verkörpert. Das war dort eine Sensation.
Aber auch die Erstaufführung an der Wiener Staatsoper war ein Triumph des künstlerischen Tandems Marco Arturo Marelli (Inszenierung) und Michael Boder (Musikalische Leitung). Was die Wiederaufnahme (wir halten bei der „7. Aufführung des Werkes in dieser Inszenierung“) wieder nachdrücklich bewies.
Nigl empfindet den Orest als Menschen, den Macht, Mord und Tod überfordern. Er will sich nicht mehr den Göttern fügen und dem Schicksal ausliefern. Der von Elektra ebenfalls befohlene Mord an Hermione, der Tochter des Menelaos und der Helena, findet nicht mehr statt. Er spielt ihn als tausendfach Traumatisierten mit einer irre vielschichtigen Ausdruckspalette, von eindringlicher Körpersprachlichkeit. Seine Stimme malträtiert er bis zum Exzess. Bis dato hält sie das problemlos aus.
Zwei weitere Neue: Michael Laurenz folgt der Premierenbesetzung Thomas Ebenstein auf Augenhöhe nach. Einen widerlichen Feigling und geschmeidigen Opportunisten und Wendehals mimt er bis in die Haarspitzen. Groß dimensioniert bis in heldische Bereiche hinein ist sein greller Charaktertenor. Ruxandra Donose (auch sie bereits die Zürcher „Elektra“ in Neuenfels‘ Lesart) hatte die schwierige Aufgabe, der bühnenbeherrschenden, dämonischen Evelyn Herlitzius in dieser Rolle nachzufolgen. Ihre Stimme ist dunkler, wohl auch weniger hart als das Organ der Herlitzius. Aber sie hielt sich sehr gut, die gerundete, auch Höhenattacken respektabel meisternde Stimme zeigte keine Spuren von Überforderung. Eine gute Besetzungsvariante.
Von der Premierenbesetzung blieb der Apollo/Dionysos. Der Schwede Daniel Johansson gab die Doppelrolle mit gleißendem Tenor, der sich allerdings in den gefährlichen Höhen deutlich verengte. Doch der technisch versierte Sänger hat sein Organ perfekt im Griff – da gibt es kein Kippen oder Ausweichen in rettendes Falsett.
Laura Aikin wiederholte ihre „Schöne Helena“ als eine Art Marylin-Monroe-Doublette, trug ihr Glitzerkostüm mit Geschmack und Anstand, spielte die Heimkehrerin, die nirgendwo Einlasstüren vorfindet, mit toller Bühnenidentifikation, war auch stimmlich purer Luxus.
Audrey Luna war stimmlich ganz ihre Bühnentochter. Beide tönen zum Verwechseln ähnlich. Rollengerecht klingt „Hermione“ eine Generation jünger. Jeder Zoll eine Lichtgestalt.
Die bildgewaltige Inszenierung ist voll intakt. Bühne und Lichtdesign sind nach wie vor bestechend. Die Kampfchoreografie gerät perfekt.
Michael Boder war wie immer der ruhige, umsichtige musikalische Lenker des blutigen Geschehens. Er hat es nicht nötig, mit großer Geste Intensität vorzutäuschen. Bei ihm braucht es nur ein kleines Zucken der Taktstockspitze – und musikalische Tsunamis brechen los. Atemberaubend wieder die musikalische Schockstarre, nachdem Helena mit dem Beil erschlagen wurde!
Das Orchester der Wiener Staatsoper schätzt Michael Boder offenkundig besonders und legte sich daher wieder mit Verve ins Zeug. Man legte ein überzeugendes Plädoyer ab für ein starkes, bühnenwirksames Musiktheaterstück eines Zeitgenossen.
Es sollte weiterhin das Repertoire im Haus am Ring bereichern. Nach Aribert Reimanns „Medea“ wäre der „Orest“ ebenfalls ein Ausrufezeichen einer Oper des 21. Jhts.! Und keinesfalls bloß „Kunsthandwerk“, wie das in blasierter und herablassender Weise von Feuilletonisten eben wieder geschrieben wurde. Da scheinen immer noch sakrosankte Vorgaben längst veralteter „Serieller 10 Gebote“ zu gelten. So hat man allerdings Opernhäuser leergespielt! Eine zeitnahe Kombination mit Richard Strauss‘ Elektra böte sich an. Vielleicht sogar an einem Abend? Ob das bühnentechnisch machbar wäre (mit der Kupfer-Inszenierung, die dem Vernehmen nach wiederkommen soll), kann ich nicht beurteilen.
Guter Besuch und starke Akklamation bei dieser Repertoirevorstellung! Auch die Abonnent/innen der Gruppe 21 dürften ziemlich vollzählig erschienen sein.
Karl Masek