Thomas Johannes Mayer, Thomas Ebenstein. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
WIEN / Staatsoper: „OREST“ / Manfred Trojahn / Erstaufführung im „Haus am Ring“
Was für ein „Plan B“!
31.3. 2019 – Karl Masek
Plan A: Eine Uraufführung hätte es werden sollen. „Phaedra“ von Krzysztof Penderecki. Das wäre die 2. UA (nach Stauds „Die Weiden“) in dieser Saison gewesen. Penderecki musste im März 2018 mit größtem Bedauern „wegen widriger Umstände“ absagen. Das Zittern, ob Kompositionen für geplante Uraufführungen fertig werden, hat sich seit der Barockzeit nicht geändert“, so Dominique Meyer mit unerschütterlicher Ruhe. Nach außen hin zumindest. In so kurzer Zeit einen anderen Komponisten für eine UA zu gewinnen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Guter Rat war teuer.
Doch nicht lange. Wozu hat man schließlich kundige und findige Dramaturgen? „LángLáng“, die Brüder Andreas und Oliver Láng, kamen mit der Idee, statt dessen eine Erstaufführung an der Staatsoper zu machen: „Orest“, die 2011 mit großem Erfolg in Amsterdam uraufgeführte Oper von Manfred Trojahn. Das ist keine Eintagsfliege der zeitgenössischen Oper, wurde zwischenzeitlich viermal nachgespielt (in Hannover, Hamburg, Zürich, eine Neuenfels-Inszenierung, in der Titelrolle mit dem Wiener Georg Nigl) – und 2014 an der Neuen Oper Wien, die damals wieder einmal schneller als die anderen Wiener Opernhäuser war, wenn es um Erstaufführungen von modernen bzw. zeitgenössischen Opern ging).
Meyer griff diese Idee auf –und bei der Jahrespressekonferenz für die Saison 2018/19 konnte der Plan B Mitte April 2018 bereits bekannt gegeben werden. Mit erweiterter inhaltlicher Klammer für sogar vier „Troja“- Opern innerhalb weniger Monate: „Les Troyens“, „Elektra“, „Idomeneo“ – und eben „Orest“. Es wurde somit sogar ein TROJA(HN)-Jahr!
Was für ein Plan B! Der deutsche Komponist Manfred Trojahn (* 1949 in Cremlingen, in der Nähe von Braunschweig) wurde im Haus am Ring erstmals vorgestellt. Das Werkverzeichnis des Vielschreibers, Allrounders und großen Könners umfasst alle Genres. Symphonien, Kammermusik, Lieder, – und eine Fassung von Mozarts Oper„La Clemenza di Tito“ mit neu komponierten Rezitativtexten. Apropos Texte: Trojahn ist auch sein eigener Librettist, nachdem ihm zwei sehr nahestehende Librettisten durch Todesfälle abhandengekommen waren.
Sein „Orest“-Libretto: Kongenial zur Musik, das fiel sofort auf. Ein Text mit Sprachgewalt, mit Theaterpranke! Eine Kunstsprache, keine Alltagssprache! Angereichert mit Nietzsches Gedankengebäuden. Und dem „Zauber des Dionysischen“.„Es ist nicht genug Blut geflossen, es muss gejätet werden im Garten der Welt!“ … , „selbst die Morgendämmerung ist blutrot…“ lässt Trojahn die hasserfüllte Rächerin Elektra sagen, für die es keine Liebe geben kann ohne die ihr vorschwebende Gerechtigkeit im Vorfeld, wenn sie ihrem Bruder Orest auf die Frage „Steht vor dem Rechtnicht die Liebe?“ brüsk antwortet. Ob Absicht, ob Zufall: Es fällt auf, auch Elektras verhasste Mutter Klytämnestra (mit deren Todesschrei diese Oper beginnt) redet bei Hofmannsthal vom Jäten („Ich habe keine Kraft zu jäten“) und von allerlei Bräuchen („Es muss für alles richt’ge Bräuche geben…“).
Dennoch keinerlei Epigonentum. Auch wenn man in gewissen Momenten zu spüren vermeint, Richard Strauss oder Alban Berg schauen kurz um die Ecke. Der obsessive „Todeston H“ aus dem „Wozzeck“, wenn dieser seine Marie ermordet , den der Komponist Gerald Resch in einem „Subjektiven Hörprotokoll“ bemerkt, wenn Orests Namen gemurmelt wird. Als Innere Stimmen von Orests Gewissen nach dem Muttermord, als Stimmen der Erynnien? Und doch ist es eine ganz eigene Musiksprache, die sich letztlich von Vorbildern seiner kompositorischen Frühzeit (z.B. Ligeti und seine Cluster-Technik) frei macht, emanzipiert. Auf den Punkt komponiert, ohne jede Geschwätzigkeit, wie der Dirigent Michael Boder im Interview im Print- und OnlineMerker betont.
Ich komme zum Orchester der Wiener Staatsoper. Ein besonders lesenswerter Artikel („Annäherungen an Orest“) im exzellent zusammengestellten Programmheft kommt vom Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, Volkhard Steude. Dieser antizipiert äußerst klar, was man an diesem denkwürdigen Premierenabend aus dem Orchestergraben zu hören bekommt. Demnach „wirken viele Werke der Moderne erst, wenn man einen gewissen Abstand gewinnt und nicht an einzelnen Pinselstrichen festklebt. Sinn und Ausdruck liegen im Gesamten und ein einzelnes, herausgelöstes Element … funktioniert erst im Zusammenhang mit allen anderen Teilen …, aus der Distanz betrachtet, ergibt sich aber ein stimmiges, ausdrucksstarkes Bild…“.
Ein ausdrucksgeladenes Gesamtbild, das gelang den (und bei der Premiere waren sie es!) Wiener Philharmonikern mit einer meisterlichen Mischung an scharfer Charakterisierung, rhythmisch komplexer Struktur, klanglich auf der Höhe heutiger Opernfarben. Resultat einer offenbar perfekt gelungenen Zusammenarbeit, wenn man mit einem Komponisten zu Lebzeiten kommunizieren, mit ihm sprechen, diskutieren und als Mit-Geburtshelfer eines zeitgenössischen Werkes fungieren kann. Und Trojahn war, so hört man, von Beginn der Probenarbeit an, dabei! Was gibt es Ergiebigeres, Besseres, Schöneres?
Michael Boderbewährte sich einmal mehr als ruhiger, souveräner, Sicherheit ausstrahlender, höchst kompetenter Spezialist von Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Das nüchterne Wort „Sachwalter“ trifft es einerseits natürlich, auf der anderen Seite ist es eigentlich eine Geringschätzung seiner dirigentischen Qualitäten. Der zurückhaltende große Könner versprüht keinen oberflächlichen Glamour-Effekt. Aber gerade darum ist er für alle, denen es wichtig ist zu sagen, hier gilt’s der Kunst, zumal der „heutigen“, geradezu unbezahlbar!
Marco Arturo Marelli inszenierte sein 13. Werk an der Wiener Staatsoper. Ihn, der sein Theaterhandwerk von der Pieke auf gerade auch in Wien gelernt hat (ab 1973 an der Wiener Volksoper im damaligen Technischen Büro, was viele nicht mehr wissen, schließlich „Don Giovanni“und „Le Nozze di Figaro“ am Währinger Gürtel inszenierend) kann man durchaus als eine Art Nachfolger des Theatermagiers Jean-Pierre Ponnelle bezeichnen! Wie er ist er Regisseur und Bühnenbildner in einer Person. Fast alle seine Wiener Inszenierungen (als einzige nicht die „Zauberflöte“ des Jahres 2000!) waren Erfolge, einige sogar das, was man „stilbildend“ bezeichnet, z.B. „Cardillac, „Jakobsleiter/Gianni Schicchi“). Archaisch seine Bühnenbildlandschaft diesmal. Von monumentaler Einfachheit die erdrückende Mauer-Seelenlandschaft, die Orest, Helena, Elektra, traumatisiert. Seitliche Türen gehen auf und zu, machen den Eindruck, die eigentlich schon ermordete Klytämnestra würde jeden Augenblick auch lebendig (und nicht bloß als Geist) wieder erscheinen. Suggestive Lichtregie hält einen Abend lang (ca. 80 Minuten lang) in Atem. Auch die Kostüme (Falk Bauer) konnten sich sehen lassen. Eine Inszenierung, die sich in der Personenführung auf die Protagonist/innen fokussiert.
Dass der Krieg in allen Menschen tiefe Spuren hinterlassen hat, zeigte eine wilde Kampfszene auf einem Trümmerfeld, wie man das im Musiktheater in dieser Brutalität wohl schon lange Zeit nicht gesehen hat (Besondere Leistung der 24 Artisten der Wiener Staatsoper).
Das Ensemble, welches im „Musiktheater in sechs Szenen“ das Publikum atemlos das Bühnengeschehen mitverfolgen ließ:
Thomas Johannes Mayer war ein Orest bis hin zur Selbstentäußerung in selbstquälerischer Schuldverstrickung. Er, als Bariton, muss an etlichen Stellen über die Bariton-Lage hinausgehen. Er spielt alle Facetten des Zerrütteten, des Schuldbeladenen, schafft alle wahnwitzigen Intervalle, die mörderische Ausdruckspalette bis hin zum Schrei, bis hin zu Falsett-Tönen. Ein Rollenporträt, an absolute mentale Grenzen gehend! Auch an die Grenze des „Stimm-mordenden“! Die Hinmetzelung der „Schönen Helena“ ließ den Atem stocken – so wie die Musik plötzlich schockhaft erstarrt in ihrer gelähmten Klangflächigkeit im gefühlten Fünffach-Pianissimo, über gefühlte Minuten hinweg…
Thomas Ebenstein war als Menelaos das perfekt widerwärtige Abbild eines Klischee-Politikers. Zynisch, zugleich feige als einer, der sich nie deklariert in der Angst und dem Kalkül, sich nur ja nicht zu weit hinauszulehnen. Man könnte den einen oder anderen schließlich noch brauchen. Er macht aus einer Rolle eher vom Rande her eine scharf gezeichnete Psychostudie. Sein Charaktertenor: schneidend. Man freut sich schon auf seinen Robespierre in „Dantons Tod“ im Mai!
Daniel Johansson: Mit der Doppelrolle Apollo/Dionysos gab er ein beachtliches Hausdebüt. Sein Tenor erklomm schwindelnde Höhen, nicht ganz ohne angestrengte Gequältheit. Die Doppelbödigkeit mit unterschiedlichem Tenorklang, von bösartig-gebieterisch bis verführerisch, schaffte er aber überzeugend.
Evelyn Herlitzius war mit dem ihr eigenen Aplomb und ungebrochen hochdramatischer Kraft die fanatische Elektra. Einen weiteren Mord nötigt sie Orest noch ab, ehe dieser mit der Lichtgestalt Hermione die Szene mit offenem Ende verlässt. Sie singt in der folgenden „Frau-ohne-Schatten“-Inszenierung nicht (mehr) die Färberin, sondern die dämonische Amme.
Audrey Luna war mit stratosphärischen Hochtönen (weit übers hohe C hinausgehend ) die mädchenhaft-unschuldige Hermione,
Schließlich Laura Aikin als die „Schöne Helena“, hier bereits etwas überständig gezeichnet, in Glitzerrobe und Pelzmantel und einer Frisur, die an Marilyn Monroe gemahnte. Von kühler, gleichsam gläserner stimmlicher Schönheit und der Entfernung einer, die keinen Eingang mehr ins „alte Mykene“mehr findet.
Ein uneingeschränkter Premierenerfolg, starker Beifall für alle. Kein Misston. Mehr als zehn Minuten dauerte der Beifall. Besondere Phonstärke der Bravorufe für Michael Boder und das Orchester, sowie Orest, Elektra, Helena und Hermione.
(Reprisen: 5., 7., 10., 13.4.)
Karl Masek