
Plácido Domingo und Orchestermitglieder. Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
WIEN / Staatsoper: NOCHE ESPANOLA. Ein Abend mit Placido Domingo
15. November 2021
Von Manfred A. Schmid
2017 feiert die Staatsoper mit einer Domingo Gala das 50-jährige Bühnenjubiläum des Ausnahmesängers. Eine Abschiedsvorstellung? Weit gefehlt. Im Jahr darauf ist der längst ins Baritonfach abgewanderte einstige Welt-Tenor wieder da, als Vater Germont in La Traviata. Nach Auftritten in den Titelpartien von Macbeth und Simon Boccanegra 2019 kommt es im Herbst 2020 – vor dem Corona-Lockdown und allfälliger Verstrickung in die Me-too-Affäre zum Trotz – zu einem weiteren Simon Boccanegra-Engagement. Nun, inzwischen mit (mindestens) 80 Jahren auf dem Buckel (und auf der Stimme), steht er im Haus am Ring – in einer vermeintlich weiteren Abschiedsgala – erneut auf der Bühne: Placido Domingo, unterstützt von Saioa Hérnández und Arturo Chacón-Cruz, entführt seine Fans im ausverkauften Haus in die Welt der Zarzuela, der eigenwilligen spanischen Schwester der Pariser, Wiener und ungarischen Operette. Diese Programmwahl hat einen besonderen Reiz, denn die hierzulande wenig bekannte und dadurch ziemlich exotisch wirkende Kunstform hat ihre eigene Geschichte und ihre eigene Musikdramaturgie. Dazu kommt, dass Domingo als Sohn eines Ehepaares, das mit Zarzuelas durch die hispanische Welt reiste, in diesem Genre seine musikalischen Wurzeln hat.
Domingo, der ein paar Tage zuvor noch als Nabucco bekanntlich im 3. Akte abgelöst werden musste, zeigt sich an diesem Abend bewundernswert fit, wohlauf und charmant. Ganz Kavalier, geleitet er die Sopranistin bei ihren Auftritten die Stiege hinunter, hebt eine Rose auf, die aus einem der Blumensträuße gefallen ist (an diesem Abend sind es insgesamt so an die zehn, die auf die Bühne segeln), und überreicht sie charmant der 2. Konzertmeisterin. In der das Konzert abschließenden Zugabe – Lehárs „Lippen schweigen“ – tanzt er mit seiner Partnerin sogar ein paar Takte Wiener Walzer. Das Publikum ist hingerissen. Noch hingerissener, als es zuvor ohnehin schon war.
Gesungen wird an diesem Abend natürlich auch. Hervorragend von Saioa Hérnandez, die jüngst als Abigaille in Nabucco brillieren konnte und an diesem Abend ihre gesanglichen Qualitäten erneut unter Beweis stellt. In den Liedern und Duetten aus Zarzuelas, u.a. von José Serrano, Pablo Sorozábal und Federico Moreno Torroba, geht es um schicksalsschwere Beziehungen, um starke Leidenschaften, bei denen die gesellschaftlich und persönlichen Hürden, die einer Liebe entgegenstehen, trotzig herausgefordert werden, so dass die Liebe meist im Schatten des Todes steht. Diese extreme Gefühlswelt expressiv zum Klingen zu bringen, gelingt der mit einer phänomenalen Beherrschung ihrer ausdrucksstarken Stimme ausgestatteten spanischen Sopranistin in bewundernswerter Manie.

Jordi Bernácer, Dirigent, mit Arturo Chacón-Cruz, Saioa Hérnández und Plácido Domingo beim Applaus. Handyfoto von Martina Schmid-Kammerlander.
Natürlich verfügt auf Plácido Domingo über eine fabelhafte Stimmtechnik, ansonsten wäre es unmöglich, in vorgerücktem Alter noch so singen zu können. Darstellerisch ist er mit seiner langjährigen Erfahrung und Bühnenpräsenz ohnehin ein einzigartiges Phänomen. Dass die Stimme für ein Haus wie die Staatsoper aber längst nicht mehr reicht, ist nicht zu überhören. Aber solange er auf sein dankbares und treues Publikum zählen kann und ihm eine Bühne zur Verfügung steht, wird er das Singen nicht lassen können. Auch diesmal war im Vorfeld von einem Abschied die Rede. Doch der Sänger hat schon durchklingen lassen, dass ihm statt Adiós Auf Wiedersehen und Auf Wiederhören lieber wären. 54 Bühnenjahre reichen zwar vermutlich jetzt schon für einen Eintrag im Guinness Buch der Rekorde. Allerdings nur in der Opernsparte. Denn Johannes Heesters hat mit 107 Jahren noch gesungen und sich eine kleine Zigarette angezündet. 90 Jahre Bühnenerfahrung, das wird freilich sogar für den vitalen Domingo schwer zu toppen sein.
Eine Enttäuschung ist der aus Mexiko stammende Tenor Arturo Chacón-Cruz, der sich seit dem Gewinn von Plácido Domingos Operalia Wettbewerbs 2005 stimmlich eher zurückgebildet haben dürfte. Ein heiser und belegt klingender Tenor, der er schwer hat, sich gegenüber dem beherzt aufspielenden Orchester unter der Leitung von Jordi Bernàcer durchzusetzen. Konkurrenz für Domingo ist er jedenfalls nicht im Entferntesten. Reiner Zufall?
Das Orchester bewährt sich, wie zu erwarten, auch in dem wohl nicht sehr vertrauten Genre der spanischen Zarzuela bestens. Besonders die instrumentalen Zwischenspiele, immerhin aus der Feder von Meistern wie Enrique Granados und Manuel de Falla stammend, gelingen vortrefflich und sind vielen Ohren vertraut.
Stürmischer Jubel, kaum enden wollender Beifall, in dem große Dankbarkeit für viele in der Vergangenheit ausgekostete, unvergessliche Stunden mitschwingt. Plácido Domingo ist und bleibt ein Ausnahmekünstler. Wie lange noch?