Wiener Staatsoper – 22.1.2021:
„Live“- ja, wirklich, lebendig, direkt aus dem Haus am Ring –
„NABUCCO“ – Verdi pur! Verdi so lebendig wie noch nie?
Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
So dünkte es mich bei dieser Übertragung von Anfang bis Ende. Beim noblen Verdi-Klang der Wiener Philharmoniker, beim hingebungsvollen Dirigat von Marco Armiliato, beim blitzsauberen, edlen Gesang des Staatsopernchores und beim emotionalen Totaleinsatz sämtlicher Solisten. Alle schienen verständlich machen zu wollen, wofür sie leben, wessen Lebendigkeit sie beweisen müssen. Und wir zuhörenden und zuschauenden Opernliebenden mit nur einem halben Meter Abstand vom Bildschirm unserer Computer wussten, was wir dringlichst zum psychischen Überleben brauchen: diese herrliche Kunst, die alles kann, was unser Leben am lebenswertesten macht: die großen Gefühle, das Verständnis für unsere Existenz, die Sprache unserer Seele.
Jedes Mal, wenn wieder so eine echte Verdi-Kantilene einsetzte, musste ich heulen. (Erst zwei Tage später, bei der Übertragung auf ORF III hatte ich mich wieder „in der Hand“.)
Und es ist mir noch nie derart bewusst geworden, worum es dem 29-jährigen Verdi in dieser seiner ersten großen Erfolgsoper ging und bis zu seinen beiden letzten, „Otello“ und „Falstaff“, gegangen ist: mittels hochdramatischer Geschichten und Verhaltensweisen rund um hochemotionale Menschen, unabhängig von Zeit und Ort des Geschehens, seinen Mitmenschen das Verständnis humane Befindlichkeiten zu vermitteln.
Wenn man einen Titelhelden wie Plácido Domingo zur Verfügung hat, der noch dazu mit diesem geltungssüchtigen assyrischen König, der letztlich doch einsieht, dass er nicht Gott ist, wohl aber seiner bedarf, einen schönen runden Geburtstag feiern durfte, hat ein solches Wissen den denkbar besten Vermittler gefunden.
Durch die Nahaufnahmen der Bühne und diverser Szenenausschnitte war die Konzentration auf einzelne Personen natürlich leichter möglich als aus ferner Galeriesicht. Somit wurde es auch unnötig, über die Inszenierung von Günther Krämer zu schimpfen, was wir ohnedies schon zur Genüge getan haben. Die vermissten historischen Kostüme (wie man sie etwa bei der MET im KINO-Übertragung mit Domingo sehen konnte) waren aus solcher Sicht auch nicht notwendig, denn es konzentrierte sich ja alles auf die Gesichts- und Körpersprache der Mitwirkenden. Die pantomimische Kinderszene rechts vorne auf der Bühne während der Ouvertüre (die wir von unseren Galerieplätzen ohnedies nie zu sehen bekamen), wo kleine Mädchen und Buben sich mit Waffenübungen zeigen (wohl die Kinderträume des späteren Königs andeutend) fand ich diesmal ganz nett und zum sanfteren Teil der Musik passend.
Dass auch der historische Nebukadnezar II (605 BC – 562 BC) für 7 Jahre nach seiner extremen Selbstüberschätzung den Verstand verloren (und nur mehr Gras gefressen) haben soll, ihn aber wieder gewann, sodass er insgesamt über 40 Jahre in Babylon regieren konnte, machte die Figur für Verdi wohl ebenso faszinierend wie für Domingo. Dass dem Komponisten zur ersehnten Befreiung des jüdischen Volkes aus der babylonischen Gefangenschaft noch dazu seine allerpopulärste Melodie eingefallen ist – dieses „Va pensiero…“ hat doch in weiß Gott wie vielen Menschen, ja, Völkern ähnliche Wünsche geoffenbart – musste auch bei Plácido Domingo, der ja, zusammen mit seiner Frau, in Tel Aviv sein allererstes Engagement gefunden hatte, den Wunsch bekräftigt haben, zu seinem 80. Geburtstag gerade diese Rolle in Wien singen zu dürfen.
Dass seine Stimme nicht mehr jugendlich klingt, aber nach wie vor durch volle Kraft verblüfft, ist uns nicht neu. Er braucht auch physisch gar nicht übermäßig zu agieren, denn in seinem Gesicht spielt sich ohnedies alles ab. Wenn dieser Nabucco bei seinem ersten imposanten Auftritt „Tremin gl’insani del mio furore“ seine Opfer vor Wut erzittern und „In mar di sangue“ zugrunde gehen lassen will, blitzt in seinem Antlitz ganz kurz einmal, noch ehe man ihm mit Rache an seiner Tochter droht, ein Moment der Einsicht auf, ehe er sich wieder zusammenreißt zu weiteren Drohungen, die diesmal fast den Eindruck erweckten, als seien sie nur noch gespielt. Wenn er dann im nächsten Bild, noch ehe er den fatalen Ausruf: „Non son più re, son Dio!“ von sich gibt, schon Anzeichen beginnender Schwäche spüren lässt und nicht plötzlich zusammenbricht, sondern langsam zu Boden sinkt (nicht auf dem gläsernen Behälter, wie vom Regisseur vorgesehen), so ist das nicht nur eine altersbedingte Notlösung, sondern die beginnende Einsicht in die Unmöglichkeit solcher Statements. Alle folgenden Szenen sind dann wie eigens für ihn komponiert – wechselnde Emotionen zwischen Empörung und Einsicht, insbesondere was das Verhältnis zu seinen beiden Töchtern betrifft. Dass Fenena aus Liebe zu Ismaele zum Glauben der Israelis gewechselt hat, bewegt ihn sichtlich mit zu seinem Entschluss, diese aus der Babylonischen Gefangenschaft zu befreien; und den Selbstmord der Abigaille, die ihn ja immerhin entthront hat, habe ich noch von keinem Nabucco-Darsteller als so schmerzlich empfunden erlebt.
Natürlich wurde Domingo, wie auch alle anderen Sänger und die Chöre von Marco Armiliato und den im wörtlichsten Sinn „philharmonischen“ Instrumentalisten entsprechend unterstützt. Es hat immer wieder mal eingeschworene Wagnerianer gegeben, die dessen durchkomponierte Opern letztlich für das einzige Richtige erklären zu müssen glaubten und Verdis Nummernopern als zweitrangig einstuften. Gerade in dieser Aufführung machte jede Musiknummer als solche Sinn, Soloauftritte ebenso wie Ensembleszenen. Verdi hat seinen führenden Solisten mit jeder Arie die Möglichkeit zu totaler emotionaler Hingabe geschenkt, was insbesondere für die „böse“ Abigaille hilfreich ist, und auch von Anna Pirozzi entsprechend genützt wurde. Die Hausdebutantin vermochte – sichtbar vor allem, wenn man sie so nahe vor sich hat, ihren sehr positiven Gefühlen für Ismaele Ausdruck zu verleihen. Nachdem sie dem Zorn über ihre Position als Sklavin Ausdruck verliehen hat, schwenkt sie mit „Anch’io dischiuso un giorno/ Ebbi alla gioia il core; Tutto parlarmi intorno/ Udia di santo amore…“ in eine liebevolle Kantilene um, in diesem Fall vom Orchester derart liebevoll getragen, dass man die Frau nur noch zu diesen ihren Gefühlen beglückwünschen konnte. Die Sängerin hat denn auch alle Extremtöne und Höhenlagen souverän gemeistert und war insgesamt keineswegs das Ungeheuer, als das sie zumeist dargestellt wird. – Die von den Autoren ganz positiv gezeichnete Fenena fand in der prächtig singenden jungen Ungarin Szilvia Vörös, die uns ja schon unter Dominique Meyer mehrfach beglückt hat, und in dieser Inszenierung zumeist an vorderster Front positioniert ist, eine Idealverkörperung. Zuletzt freut sie sich auf den Himmel, hält in Verklärung den Freudenfächer in der Hand, mit himmlischer Stimme. Man gönnte der persönlichkeitsstarken, zwischen den politischen und Glaubensfronten hin- und hergerissenen jungen Frau das glückliche Ende. Ihren tenoralen Liebhaber sang und spielte Freddie De Tommaso hervorragend, mit schöner, tragfähiger, aus den Ensembles leuchtender Stimme und viel emotionalem Einsatz.
Riccardo Zanellato, ebenfalls Hausdebutant, gehört zu den kultivierten Bässen der Gegenwart, die in der Tiefe nur bei rücksichtsvoller Orchesterbegleitung zur Geltung kommen. Sein Zaccaria hatte die geforderte Würde, konnte an Intensität aber mit dem Titelhelden natürlich nicht mithalten. Unser altbewährter Hausbassist Dan Paul Dumitrescu, hier „nur“ ein sehr wohlklingender Oberpriester des Baal, hätte sich mit seiner dunkleren und voluminöseren Stimme wohl auch die größere Rolle des Zaccaria verdient. Als Stichwortbringer ließen sich der Tenor Daniele Jenz (Abdallo) und die Sopranistin Aurora Martens (Anna) sehr angenehm vernehmen.
Die führende Rolle, die Verdi dem Chor zugewiesen hat, wurde von unserem Meisterplenum, liebevollst einstudiert von Thomas Lang, nicht nur vokal perfekt, sondern spürbar auch mit Herz und Seele präsentiert. Da helfen freilich auch Regieideen wie in der Szene mit dem Gefangenenchor (dessen berührende Melodie bereits in der Ouvertüre beeindruckte), dessen sämtliche Mitglieder bei Öffnung des Vorhangs ausgestreckt auf dem nackten Boden vor offenem Hintergrund („am Ufer des Euphrat“) liegen und sich erst, während die „Gedanken“ der in babylonischer Gefangenschaft weilenden Israelis „auf goldenen Flügeln“ fliegen („Va, pensiero, sull’ali dorate“), nach und nach erheben und zuletzt mit Bildern verlorener Angehöriger bis an die Rampe vortreten. Da lässt Maestro Armiliato natürlich auch das Orchester mit aller nur denkbaren Intensität mitmachen. Das abwesende Publikum hätte nach dem berührenden p>>pp>>>ppp>>>>pppp-Ausklang vermutlich gar nicht mehr zu klatschen aufgehört….Wenn der besungene Gott da nicht mild gestimmt wird…egal welcher!
Der einzige Applaus des Abends kam vom Orchester für die Bühnenkünstler und von diesen für das Orchester. Bei der gestreamten Übertragung hörte man aus dem Hintergrund dann noch ein „Happy birthday, dear Plácido…“ vom gesamten Ensemble.
Alles unsinnige Drumherum aus diversen Medien, womit man Domingos Lebensleistung als Künstler einzuschränken bemüht war, konnte vergessen werden. ER IST EINZIGARTIG.
Sieglinde Pfabigan