
Xavier Sabata inmitten des Tanzensembles. Alle Fotos: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
WIEN / Staatsoper: Monteverdis L’INCORONAZIONE DI POPPEA
Premiere
22.05.21
Von Manfred A. Schmid
Das Dramma musicale L’incoronazione di Poppea, in der Karnevalssaison 1641/42 in Venedig uraufgeführt, hat Operngeschichte geschrieben und ihren Schöpfer Claudio Monteverdi zum wesentlichen Weichsteller für die Weiterentwicklung der damals noch jungen Gattung gemacht. Erstmals wurde eine Oper nicht an einem Fürstenhof, sondern in einem öffentlichen Theater, im Teatro Santi Giovanni e Paolo, aufgeführt, und die Handlung ist erstmals nicht der mythologischen Götterwelt entnommen. Im Mittelpunkt stehen vielmehr historische Persönlichkeiten rund um die Person des berühmt-berüchtigten römischen Kaisers Nero (Nerone). Es geht um Liebe, Eifersucht, Verrat, Mord und Totschlag, vor allem aber um Macht und Machterhalt um jeden Preis. Gerade aber die politische Dimension, das Streben nach Macht, spielt in der Regie von Jan Lauwers nur eine untergeordnete Rolle. Dem belgischen Gründer der „Needcompany“, mit der er mit seinen inszenatorischen und vor allem tanzbetonten „Gesamtkunstwerken“ international für Aufsehen sorgt, geht es offenkundig vor allem um Erotik und Sex. Und das wird von der voll motivierten Tänzerschar in einem fort auch eindrucksvoll und abwechslungsreich vorgeführt. Auf der Bühne, die eigentlich nur eine freie Fläche für allerlei Entfaltungsmöglichkeiten ist, bietet sich als Schauplatz stets neuer tänzerischer Formationen an (Choreographie Jan Lauwers & Paul Blackman). In der Mitte ein rundes Podest, auf dem sich Tänzer und Tänzerinnen abwechselnd wie Derwische ständig im Kreis drehen: der Lauf Zeit, das Schicksal, die ewige Wiederkehr des Gleichen? Man weiß es nicht, aber schon beim Hinschauen könnte einem schwindlig werden.
Die Hauptakteure der Handlung, die sich in diesem Bewegungszirkus ihre Wege bahnen, sind oft nur schwer auszumachen. Wenn sie nicht sängen sowie eigens gekleidet wären (Kostüme Lemm&Barkey) würden sie in dem Gewusel wohl untergehen. Das angestrebte „Gesamtkunstwerk“ leidet darunter, dass sich die Interaktion zwischen der Handlung und den Tänzen, der Konnex zwischen den Sängerinnen und Sängern und den Tänzerinnen und Tänzern, nicht erschließen will. Eigentlich gibt es nur ein einziges gelungenes Tableau, das beide Ebenen einheitlich zusammenführt: Wenn die Tänzer im Vordergrund der Bühne, ineinander verschlungen, eine minutenlang regungslos verharrende Kette bilden, während Ottavia schläft. Das hat ikonische Qualität, vergleichbar mit Leonards Abendmahl oder dem Revolutionsgemälde von Jacques-Lous David. Ansonsten gilt: Aus und vertanzt!

Von rechts nach links: Slavka Zamecnikova, Kate Lindsey und Solotänzer Camilo Mejía Cortés
Aber nicht vergeigt: Gesungen wird nämlich ordentlich bis ausgezeichnet, und für feinen barocken Klang sorgt der Concentus Musicus Wien unter der sensiblen Leitung von Pablo Geras-Casado. Der Geist von Nikolaus Harnoncourt schwebt gütig über den Orchestergraben, der hier etwas angehoben ist und so die Musiker an den Originalklang-instrumenten in das Geschehen miteinbezieht. Barocker Originalklang, oft harsch und aufgeraut, ist für heutige Ohren allerdings Gewöhnungssache: Etwsas, das man wohl acquired taste nennt.
Wenig verwundert, dass auch diese Premiere ein Produkt von Staatsoperndirektor Bogdan Roscics Einkaufsstrategie ist, die seit Herbst den Spielplan des Hauses prägt und fast darin besteht, anderswo entstandene Produktionen, die das Regietheater der letzten Jahrzehnte geprägt haben, nach Wien zu importieren und dem Publikum vorzusetzen. Lauwers hat seine Inszenierung des letzten und bedeutendsten Musikdramas Monteverdis schon 2018 bei den Salzburger Festspielen erstmals vorgestellt. Dennoch ist diese Premiere keineswegs identisch mit der Salzburger Aufführung, sondern sie wurde von Lauwers und seinem Team mit neuen Mitwirkenden für Wien neu erarbeitet. Aber nicht nur das: auch die Aufführungen, die folgen werden – so der Regisseur in einem Gespräch mit Roscic im Rahmen der Einführungsmatinee – sollten sich jeweils von dem am Premierenabend Gebotenen unterscheiden, denn der Regisseur vertraut bei seiner Arbeit auf die Initiativkraft der Künstler, denen genügend kreativer Freiraum geboten wird, um stets spontan und improvisatorisch agieren und reagieren zu können. Jede Vorstellung wird demzufolge gewissermaßen eine Premiere sein. Flow und Groove sind also Trumpf. Dass das mit der von ihm handverlesenen und aufeinander eingespielten Needcompany funktioniert, ist keine Überraschung. Leider aber ist dies beim singenden Ensemble nicht immer der Fall.
Nerone, der seine Frau, die Kaiserin Ottavia verstoßen will, weil er sich in Poppea verliebt hat und sie schließlich in einem dubiosen Happyend auch heiratet und zur Regentin krönen wird, wurde bei der Uraufführung von einem Kastraten gesungen. Wie schon in Salzburg, ist diese Rolle in dieser Version der amerikanischen Mezzosopranistin Kate Lindsey anvertraut, die an der Staatsoper bereits als Cherubino, Octavian, Komponist und in der Titelrolle von Olga Neuwirths „Orlando“ zu erleben war. Ihre androgyne Erscheinung, die in dieser Konstellation auch auf die Stimme abzufärben scheint, verleiht den erotischen Szenen einen gewissen Reiz. Dennoch bleibt die Figur Neros etwas blass. Auch Slavka Zamecnikova, vielfache Preisträgerin bei Gesangswettbewerben, ist darstellerisch nicht so überzeugend. Der Drang zur Macht einer Frau, die sich zur Königin emporgeschlafen hat, ist nicht einmal andeutungsweise zu ekennen. Ihr Sopran hört sich dafür betörend frisch und voll warmer Strahlkraft an, was das neue Ensemblemitglied bereits bei ihrem Einstand als Norina in Don Pasquale bewiesen hat. Leider aber fehlt es bei dieser L’incoronazione di Poppea offensichtlich an allen Enden an angemessener Personenführung, was zwar der Herangehensweise von Lauwers entspricht, der grundsätzlich allen Akteuren – wie bereits erwähnt – Raum für Freiheiten lässt. Wenn dieser Freiraum aber nicht kreativ genützt wird, wäre ein Eingreifen unbedingt erforderlich. Das zeigt sich etwa auch bei den Auftritten Senecas und Ottavias. Willard White verfügt über eine wohlklingende Bassstimme, die er gut einzusetzen weiß, um der Person des Philosophen und Mahners für gesittetes Wohlverhalten, der von Nerone in den Tod durch Selbstmord geschickt wird, Würde zu verleihen. Darstellerisch ist er freilich nur ein Rampensteher und Rampensänger. Der Countertenor des spanischen Sängers Xavier Sabata hinwiederum klingt weinerlicher, als es dem verzweifelten Verehrer Ottavias zusteht.
Die Möglichkeit, selbst schauspielerisch Akzente zu setzen, wird dafür von Thomas Ebenstein (Arnalta) und Daniel Jenz (Nutrica) glänzend genützt. Sie gestalten die komischen Figuren der Ammen mit merklicher Lust und sind auch stimmlich ein Grund zur Freude. Sängerisch einen starken Eindruck hinterlassen weiters Vera-Lotte Boecker als Hals über Kopf verliebte und opferbereite Drusilla sowie Josh Lovell als Soldat. Warum die gut singenden Göttinnnen krückenbewehrte, verkrüpelte Gestalten mit spastischen Zuckungen wie Hunde mit sich führen müssen, überfordert die Vorstellungskraft. Versöhnlich gestaltet sich dafür der Ausklang: Das wunderbare Duett „Pur ti miro“, vorgetragen von Nerone und Poppea, sorgt für einen glanzvollen Schlusspunkt, auch wenn diese hinreißende Musik gar nicht von Monteverdi selbst stammt.
Der Applaus ist freundlich, eine gewisse allgemeine Ratlosigkeit und Übermüdung ist fühlbar. Spärliche Buhrufe setzen sich aber nicht durch. Das angestrebte Gesamtkunstwerk ist letztlich Stückwerk geblieben. Wieder einmal ist etwas grandios gescheitert, wie man dann gerne so auszudrücken pflegt. Erfolgreiche, mitreißende Premieren werden jedenfalls anders gefeiert.