Foto: Kohki Totsuka
Wiener Staatsoper: Premiere: L’incoronazione di Poppea (Claudio Monteverdi) – 22.5.2021
Die Bedingungen, unter denen nach einer langen Betriebspause der Opernbetrieb vor Publikum wieder stattfinden kann, sind – sofern man nicht für die betriebswirtschaftlichen Kalkulationen verantwortlich zeichnet – eigentlich traumhaft: Durch die strenge Abstandsregelung wird man beim konzentrierten Musikgenuss nicht von den Sitznachbarn gestört, die Maskenpflicht ersetzt wenigstens die längt überfällige Maulkorbpflicht für Touristen. So wurde dem zivilisiert-aufmerksamen Publikum Monteverdis L`Incoronazione di Poppea präsentiert, die vorletzte Premiere der Saison, die zugleich den Auftakt einer mehrjährigen Monteverdi-Reihe bilden soll.
Jede Neuproduktion dieses Werkes steht aufgrund der knappen Quellenlage vor der großen Herausforderung, die Oper überhaupt zu rekonstruieren und zu instrumentieren. Mit dem riesigen Doppelorchesterapparat des auf Originalinstrumenten spielenden Concentus Musicus ist, wie es sich bei Monteverdi gehört, jedenfalls der adäquate Barockklang garantiert. Und dieser fasziniert tatsächlich, insbesondere die zarten Holzklänge der Bläser, die den Gesang subtil untermauern, der Konzertmeister mit artikuliertem Solo und der engagierten Continuogruppe, die vom Dirigenten Stefan Gottfried am Cembalo angeführt wird. Dennoch kämpft das Ensemble durchgängig mit rhythmischen Präzisionsproblemen und lässt insbesondere bei jedem Dreiertakt jeglichen tänzerischen Schwung vermissen. Die im Gegensatz zu französischen Barockensembles nicht durchrationalisierte Artikulation, die im romantischeren Repertoire angebracht sein mag, scheint hier an manche Grenzen zu stoßen.
Dies hat unter anderem auch der Gastdirigent Pablo Heras-Casado zu verantworten, der zwar mit seinem starken Gestaltungswillen frischen Wind bringt, damit aber auch weit über das Ziel hinausschießt: Mit seiner dirigentisch durchaus nachvollziehbaren Obsession, jede Note in jedem Rezitativ kontrollieren zu wollen, gerät das Orchester in eine unorganische Dauerspannung, welche das dreistündige Werk des geistreich-wechselhaften Momentes beraubt. So wird aus jedem Tempo- und Taktwechsel, der sich bei Monteverdi oft innerhalb von wenigen Takten vollzieht, eine recht hektische Aneinanderreihung von bemühten Einfällen. Die Abschiedsszene von Nerone und Poppea im 1. Akt etwa bekommt nicht die Zeit, die sie zur Entfaltung des sinnlich-lyrischen Pianissimo braucht, und verflüchtigt sich zu einem rastlosen Moment unter vielen anderen. Der zustimmende Beifall nach der Pause lockert die Stimmung im Graben deutlich, doch die eminent moderne Radikalität Monteverdis wird zu keinem Zeitpunkt mit einer geistigen Kraft eines Harnoncours, dem der Abend gewidmet war und dessen Ableben bis heute eine hörbare Leere in der Barockszene hinterlässt, durchdrungen. Wenigstens mit einem mehr kammermusikalisch-begleitenden Zugang wäre die immer wieder auftretende Unstimmigkeit zwischen dem Orchester und den Sängern erspart geblieben, mit stoischer Gelassenheit die Fragmentierung jenes Bogens, der die wechselhaften Einfälle zu einer Einheit konstituiert hätte. Dennoch bleibt die Orchesterleistung insgesamt bemerkenswert und es ist erfreulich, dass ein weiteres renommiertes Barockensemble seine Staatsoperntauglichkeit unter Beweis gestellt hat, auch wenn es das Perfektionsniveau eines Les Arts Florissants natürlich nicht zu erreichen vermag.
Die im Orchestergraben vermisste stoische Ruhe strahlt der 74-jährige Debütant (!) Sir Willard White als Seneca auf der Bühne aus. Wie erwartet ist er kein schlanker Barock-Bassist, beeindruckt aber mit seinem satten Wohlklang und vor allem seiner Präsenz, die zum stoischen Philosophen passt wie kaum ein anderer. Kate Lindsey, eine der besten Barocksängerinnen unserer Zeit, berührt mit ihrer gradlinigen Transparenz, Slávka Zámečníková, die bisher einzige positive Neuentdeckung der neuen Direktion, steht ihr als Poppea fast ebenbürtig beiseite. Ausbaufähig wäre bei ihr eine vertiefende Textarbeit, die manche Schlüsselbegriffe mit den im Orchester auftretenden Figuren abstimmt (etwa beim Wort „sospiri“). Xavier Sabata ist wie bei seinen letzten Auftritten am Theater an der Wien immer ein verlässlicher Countertenor mit technischer Versiertheit und der notwendigen Durchschlagskraft. Debüt von Christina Bock als Ottavia scheint generell vielversprechend, sie ist aber für ein völlig falsches Jahrhundert engagiert. So expressiv, lyrisch und teilweise dramatisch gesungen, verfehlt sie vollständig das Ausdrucksmittel des Barock. Die in einem nicht für Barock spezialisierten Opernhaus vielleicht unvermeidliche stiltechnische Diskrepanz betrifft mehr oder weniger alle restlichen Rollen, die überwiegend vom Haus besetzt sind und wovon Josh Lovell mit seinem frischen, wohltimbrierten Tenor herausragt.
Eine Bemerkung zur „Inszenierung“, die keine längeren Ausführungen verdient: Wer Monteverdis – für moderne Ohren durchaus gewöhnungsbedürftige – Musik nicht zutraut, für sich zu sprechen, braucht sich nicht um visuelle Ablenkungen und teilweise Verunstaltungen im Hintergrund zu bemühen. Dabei gäbe es doch zahlreiche gelungene Fälle, akustische Pointen mit modernen Mitteln visuell zu untermalen (man denke etwa an den Mondchor von Marelli). Die Produktion von Jan Lauwers hingegen lässt zu keinem Zeitpunkt auf irgendeine tiefergehende Auseinandersetzung mit der dramaturgischen Komplexität von Monteverdis Musik schließen, welche für den Produzenten wohl nicht viel mehr bedeutet als eine beliebig austauschbare Hintergrundmusik für seine Darstellung. Wenn man schon auf eine beinahe obszöne Entfremdung den religiös-mystischen Drehtanz der islamischen Derwische besteht, möge er dies mit der dritten Symphonie von Karol Szymanowski probieren, bei der tatsächlich das persische Gedicht des Jalal al-Din Rumi vertont wird. Auch außerhalb der Drehungen bleibt die Choreographie, die zum Schluss noch krampfhaft moderne Elemente überstülpt, höchst unästhetisch – schade um die ganze Needcompany, die sich in unendlichen Drehbewegungen an die körperliche Extreme wagt und darstellerisch exzellent arbeitet!
Das letzte Duett „Pur ti miro“ (das laut Angaben des Dirigenten gar nicht von Monteverdi selbst stammt) rettet die sonst durchschnittliche Premiere, die erneut weder musikalisch noch szenisch herausragt – also die „neue Normalität“ der neuen Ära, die man wohl mit konsequent stoischer Gelassenheit eines Seneca ertragen muss.
(Kohki Totsuka, MA)