WIENER STAATSOPER (Stream): „LE NOZZE DI FIGARO“ als Remake der Inszenierung von JEAN-PIERRE PONNELLE
Wie haltbar ist Kult?
Virginie Verrez (Cherubino), Johanna Wallroth (Barbarina). Foto: Michael Pöhn/ Wiener Staatsoper
7.2. 2021 – Karl Masek
Bogdan Roščić hat für den Start seiner Direktion vor der Corona-Pandemie (und wahrscheinlich keine Direktion seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat derart existenzielle Probleme zu bewältigen!) jedenfalls sehr differenziert, und damit sehr klug, überlegt: Mit heutiger Musik-Theater-Sprache muss man aufwarten.
„Die Staatsoper als Repertoire-Theater bietet wie vielleicht kein anderes Haus die Möglichkeit der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Kern-Repertoire. Damit untrennbar verbunden, ist die Verpflichtung, diese Opern in Produktionen zu spielen, die ihre Bedeutung auf heutige Weise ansprechen. Große Werke sind immer zeitgenössisch, das ist ihr untrügliches Erkennungszeichen. Aber das entbindet uns nicht davon, dieser bleibenden Substanz unseren eigenen Ausdruck zu verleihen…“, so der Direktor und sein Musikdirektor, Philippe Jordan, im Editorial des Jahresprogramms für eine Saison, die – bedingt durch Covid – keinen Stein auf dem anderen ließ.
Die gegenwärtige Diskussion sollte daher fairerweise nicht so geführt werden, ob das Grundkonzept für die Eröffnungssaison nun besonders mutig, besonders ambitioniert oder von allzu großem Sicherheitsdenken geprägt war / ist. Man holte jedenfalls für die 1. Saison mehrheitlich als erfolgreich beurteilte Produktionen „von auswärts“ ins Haus am Ring, wie eben „Madama Butterfly“ oder die Neuenfels-Produktion von Mozarts „Entführung aus dem Serail“. Die Wiener Erstaufführung von Hans Werner Henzes „Das verratene Meer“ war die bisher einzige wirkliche Opern-Eigenproduktion dieser Covid 19-Unglückssaison.
Wie allerdings schon die Wieder-Hervorholung der stilbildenden Harry-Kupfer-Interpretation von Richard Strauss‘ „Elektra“ zeigte, ist es der gegenwärtigen Direktion weiters darum zu tun, Remakes von Kult-Inszenierungen wieder zur Diskussion zu stellen. Wie in diesem Fall auch die „Le Nozze di Figaro“-Inszenierung des Jean Pierre Ponnelle (konzipiert 1972 für die Salzburger Festspiele), die ihre Wiener Premiere am 10.5. 1977 hatte.
Auf 250 Aufführungen hatte man es bis zum 23.1. 2010 gebracht. Das persönliche Erinnerungsarchiv meiner persönlich besuchten Vorstellungen weist sängerisch fast durchwegs erstklassig besetzte Aufführungen aus. Von zeitloser Frische, dirigiert von Karl Böhm & Riccardo Muti (aber auch der kam beim Stehplatz einmal nicht „ungeschoren“ davon!) und Seiji Ozawa (auch kein Mozart-Dirigent, hieß es da verschiedentlich) bis zu den souveränen Pult-Routiniers Leopold Hager, Peter Schneider und Adam Fischer.
Dann wurde sie bis 2016 nurmehr bei Gastspielen und Auslandstourneen hergezeigt. In Wien, meinte Dominique Meyer, musste es allerdings eine Neuinszenierung von Jean-Paul Martinoty sein. Eine museale Angelegenheit. Ein Malheur!
Der legendäre Ponnelle ist heute Kult. Beim Publikum sowieso. Seinem realistischen, hochmusikalischen Inszenierungsstil – er hat immer mit der Partitur in Griffweite inszeniert, denn er konnte Partituren lesen! – wurde seit seinem Tod 1988 nachgetrauert. Das Helmut-Qualtinger-Bonmot „In Wien musst erst g’storben sein, dann lassens‘ dich hochleben!“ trifft auch auf Ponnelle zu. Zu Lebzeiten wurde er, namentlich von einigen der Kritikerzunft, durchaus kontrovers bis ablehnend beurteilt. Man warf ihm gern eine Überfülle an Ideen vor(!), mit denen er seine Inszenierungen „überfrachtete“. Ein oft so genannter Hanslick-Nachfolger in der „Presse“ verstieg sich in der Überschrift einer Kritik über den – später, postmortal – so Herbeigesehnten sogar zu dem Ausruf: „Schafft den Ponnelle fort!“
Das alles ist Geschichte! Vielleicht ist das alles nicht ganz unwichtig für die Beurteilung dieser Wiederaufnahme! Auch mit dem Wissen um Nestroys einfachen, aber weisen Ausspruch: „Ja, die Zeit ändert viel!“
Ist Kult haltbar, galt es diesmal festzustellen.
Und wie! Allein die Bühnenbilder sowie die Kostüme sind von erlesener Ästhetik. Eine Augenweide! Grischa Asagaroff weiß noch gut Bescheid über Ponnelles „Regiebuch“, und man hat das schöne Gefühl, dieser wahrhaft „Tolle Tag“ läuft quicklebendig und übersprudelnd, ganz im Geiste Mozarts und Da Pontes, ab. Wirkte die verunglückte Vorgänger-Inszenierung schon bei der Premiere museal und angestaubt, so ist hier der Eindruck: Auch noch nach Jahrzehnten wie neu!
Besonders spielfreudig zeigte sich das gesamte Ensemble, fast durchwegs Neuengagements aus aller Herren Länder, fast alle Ende 20, Anfang 30.
Beginnen wir beim Titelhelden. Der junge Kanadier Philippe Sly als rundum erfreulicher Figaro mit angenehmem, schlankem Bass-Bariton und souveräner Darstellung des gegen den Feudalherren Aufbegehrenden. In seinem Gesicht spielen sich die feinsten Gefühlsschattierungen ab. Pfiffige Situationskomik und feine Ironie sind ihm nicht fremd.
Louise Alder (Susanna). Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Die Engländerin Louise Alder ist eine Susanna, wie sie sein soll. Immer im Zentrum des Geschehens, die Handlungsfäden resolut und souverän ziehend – und in mehrfacher Hinsicht schlag-fertig! Tadellos ihre stimmliche Performance bis hin zur Rosenarie, innig gestaltet, als duftig-romantischer Handlungsstopper des turbulenten 4. Aktes.
Der Südtiroler Andrè Schuen ist als junger, hormongetriebener und sich seiner Attraktivität bewusster Conte Almaviva mit nuancenreicher Rollendarstellung in vollem Saft und kein alternder Gockel. Natürlich, eitel ist er, und außer Marcellina ist kein weibliches Wesen vor ihm sicher. Sein Bariton: schön timbriert, sinnlich, gewiss noch ausbaufähig. Seine große Arie im 3. Akt („Ich soll ein Glück entbehren, das mir ein Knecht entziehet“, so die deutsche Übersetzung, die mir ‚von früher‘ geläufig ist) gestaltet er jedenfalls mit allen Farben des Zorns und der Eifersucht. Er pendelt übrigens zwischen Conte und Figaro (den sang er auch schon im Theater an der Wien unter Harnoncourt).
Die Italienerin Federica Lombardi war die Contessa wie aus dem Opernbilderbuch. Verletzt, unglücklich über die notorische Untreue des Gatten, wird der Stimmklang ihres edlen, auch bei dramatischen Steigerungen belastbaren Soprans dennoch niemals larmoyant oder säuerlich. Bei ihr hat man auch das Gefühl, sie hätte gegen eine längere Affäre mit Cherubino, diesem hübschen Kerlchen „mit der weißen Haut“, so gar nichts einzuwenden. Bei der Maskerade, um den Conte zu blamieren, tut sie mit zunehmendem Spaß mit. Und „Dove sono“ wird zu einem musikalischen Höhepunkt des Abends.
Die Französin Virginie Verrez spielt den Herzensbrecher Cherubino charmant, in den Verkleidungen situationskomisch und pointiert. Stimmlich schleichen sich gelegentlich leichte Schärfen ein, ab dem „ Voi che sapete“ sind sie dann verschwunden.
Der Kanadier Josh Lovell (der süffisante Basilio mit der Zahnlücke)), die US-Amerikanerin Stephanie Houtzeel (die maliziöse Marcellina mit der gezierten Körpersprache), der Russe Evgeny Solodovnikov (der profunde, für die Vaterrolle noch ziemlich junge Bartolo), der Italiener Andrea Giovannini mit feiner Psychostudie als Don Curzio, der ‚leuchtende Schwedensopran‘ Johanna Wallroth (aus dem Opernstudio) als Barbarina, mit Zukunft als baldige Susanna, der Stuttgarter mit Wahlheimat Wien, Marcus Pelz (auch der Spiegeltrinker Antonio weiß, was er im Garten gesehen hat): Sie alle bilden ein Mozart-Ensemble aus einem Guss. Da wird kein verstaubtes und altväterisches Theater gespielt, sondern mit Lust und heutiger (Musik)sprache ans Werk gegangen! Das lässt sich auf- und ausbauen – und ist so richtig nach dem Gusto des Musikdirektors.
Philippe Jordan leitet und steuert den Abend vom Hammerklavier aus mit kundiger Hand, gibt dem tollen Geschehen Rasanz, Tempo, musikalische Sorgfalt. Die Rezitative kommen mit sprachlicher Präzision und Pointensicherheit, wie man das schon lange nicht mehr gehört hat. Mozart ist Chefsache!
Das Orchester der Wiener Staatsoper spielt animiert, hochmotiviert, mit fabelhafter „Klangrhetorik“, sichtlich und hörbar begierig, endlich wieder spielen zu können. Pures Mozart-Glück!
Fehlt nur noch das Live-Publikum! Bis es (in welcher Zukunft?) endlich wieder so weit ist, wird es noch etliche „Pläne B / Pläne C,…“ geben müssen, samt kurzfristigen Umplanungen. Man hofft inständig, dass die nächste vorgesehenen Premiere, „Carmen“, in absehbarer Zeit kommen kann, dass „Parsifal“ nicht gefährdet ist, und wünscht den schwer geprüften Verantwortlichen im Haus am Ring gutes Gelingen in dieser schweren Zeit!
Karl Masek