WIEN / Staatsoper: LA TRAVIATA mit Lisette Oropesa, Juan Diego Floréz und Étienne Dupuis
21. Aufführung in dieser Inszenierung
6. September 2024
Von Manfred A. Schmid
Zum Saisonbeginn stellt Staatsoperndirektor Roscic nicht ohne Stolz zwei Produktionen in die Auslage, die in seiner Direktionszeit entstanden sind. Nach dem grandiosen Start mit der rundum gelungenen, wenn auch bedrückenden Carmen von Calixto Bieito folgt nun Simon Stones umstrittene Social-Media-Version von Verdis La Traviata, bei der sich die Geister scheiden und in der sich Violetta Valéry als Influencerin auf Instagram, am Handy und anderen zeitgemäßen Kommunikationskanälen überlebensgroß in Szene setzt. Laufend vermüllt eine Überfülle von Chatprotokollen, Emails und Schlagzeilen die Bühne. Oberflächlichkeit ist Trumpf. Das Ambiente kühl und steril, als Hintergrundfarbe dominiert blendendes Weiß, auch bei den Szenen auf dem Land. Aber die emotionsgeladene Musik von Verdi kämpft erfolgreich dagegen an, so dass sich die tragische Liebesgeschichte der opferbereit auf das gemeinsame Glück mit Alfredo verzichtenden Violetta dennoch entfalten und am Ende gar zu Tränen rühren kann.
Dazu tragen auch die famosen Sängerinnen und Sänger bei, die die nüchterne, glattpolierte Welt mit Gefühlen, Liebe, Leben und schließlich auch Tod füllen. Allen voran die mitreißend singende wie auch darstellerisch berührende Lisette Oropesa in der Titelrolle. Die kubanisch-amerikanische Sopranistin bringt alles mit, was für diese Rolle essenziell ist: Eine wunderschöne Stimme, gerade groß genug, hell und fein timbriert, ausdrucksstark und technisch so versiert, dass sie mit eleganter Leichtigkeit anmutig und geradezu schwerelos durch die Kadenzen schweben kann. Sie ist zu zartestem Pianissimo fähig, aber auch in kraftvolle Sequenzen wie in „Sempre lbera“ sattelfest. Bewundernswert, wie sich Oropesa in den sich ändernden Gefühlswelten verwandeln kann, von verliebter Glückseligkeit im ersten Akt bis zur erschütternden Verzweiflung in „Addio del passato“ und dem letzten Aufflackern des Lebens- und Liebenswillen angesichts des Todes. Darstellerisch überzeugt sie mit ehrlicher, liebenswerter Aufrichtigkeit, nicht mit großen Gesten.
Der aus Peru gebürtigen Wahlwiener Juan Diego Floréz hat den Alfredo schon bei der Wiener Premiere, damals an der Seite von Pretty Yende, gesungen. Die von ihm angepeilte Erweiterung seines Repertoires von Belcanto-Partien, mit denen er seinen Weltruhm begründet hat, hin zu neuen tenoralen Herausforderungen ist in diesem Fall recht gut geglückt und, wie man sich nun überzeugen kann, inzwischen noch besser geworden. Sein sicheres Legato und sein mezza voce bilden eine gute Grundlage für diese Rolle, für die er auch schauspielerisch gut passt, was überraschen mag, weil seine Belcanto-Rollen fast immer durchgehend sympathische und lebenswerte Figuren sind, während er als Alfredo auch dunklere Seiten offenlegen muss, wenn er etwa im dritten Akt in „Ogni sio aver tal femmna“ aus Wut über Violettas vermeintliche Untreue ausrastet und völlig die Selbstbeherrschung verliert. Am stärksten und authentisch aber ist er vor allem in den Liebesszenen und erschütternd am Schluss, wenn er in „Parigi, o cara“ Violettas Hoffnung auf Genesung zart hauchend bestärkt, in Wahrheit aber weiß, dass sie sich nicht erfüllen wird.
Nach der krankheitsbedingten Absage Ludovik Tézieres hat Ètienne Dupuis den Part des Giorgio Gemont übernommen. Der französische Bariton ist ein überaus taktvoller und sympathischer Vater Alfredos, der in seinem Gespräch mit Violetta auf dem Lande, als er sie dazu bewegen will, die Beziehung zu seinem Sohn zu beenden, nicht fordernd, sondern sanft und an ihre Gefühle appellierend zur Sache geht. Das Duett „Pura siccome un’angelo“ ist einer der Höhepunkte des Abends, besonders im pianissmo gesungenen Anschnitt knapp vor dem Schluss. Großartig weiters die Arie „Di provenza il mar“, für die er auch heftig applaudiert wird.
Durchwegs solide sind die Leistungen der aus dem Haus besetzten Nebenrollen. Lobend zu erwähnen u.a. Alma Neuhaus als vergnügungssüchtige, mondäne Flora und Stephanie Maitland als Annina, Violettas ergebene Dienerin und Vertraute sowie Carlos Osuna, Attila Mokus und Leonardo Neiva als Gaston, Baron Duphol und Marquis von Obigny. Der Bass Ilja Kazakov, gestern in der Carmen noch als brutaler Unteroffizier Zuniga im Einsatz, tritt diesmal als sanftmütig besorgter Doktor Grenvil in Erscheinung.
Die musikalische Leitung von Domingo Hindoyan aus Venezuela, trotz seiner Jugend schon ein international geschätzter Spezialist für das italienische Repertoire. lässt nichts zu wünschen übrig. Chor und Orchester tadellos, wie gewohnt. Ein musikalisch mehr als zufriedenstellender Opernabend, dem zuzutrauen ist, bei vielen den Ärger über die oberflächliche Schicki-Micki-Inszenierung vergessen gemacht zu haben.