WIENER STAATSOPER, 27.2.2015: „LA JUIVE“ – 4 Entdeckungen!
Die Grand Opéra von Jacques Fromental Halévy ist gewiss für jeden Opernbesucher, der sie nicht kannte, eine Entdeckung. Die Inszenierung von Günter Krämer aus dem Jahr 1999 wohl kaum, aber sie dient immerhin dem Werk. Für Stammbesucher ereigneten sich die Entdeckungen dieses Abends auf dem musikalischen Sektor.
Da war zuförderst der Dirigent Frédéric Chaslin (die Premiere hatte Simone Young geleitet), der in wunderbar ausgewogener Weise Lautstärken, Tempi und die musikalisch so gegensätzlichen Welten der christlichen „Gutmenschen“ und der immer unter Bedrohung lebenden Juden in einen durchgehenden Spannungsbogen einfügte, mit natürlich wirkender Steigerung der Konfliktsituation auf den Spannungshöhepunkt im 5. Akt hin. Nichts klang unangenehm schrill oder laut, nichts beiläufig, sentimental oder künstlich aufgeheizt. Chaslins sparsame, immer zielgerichtete, ausdrucksstarke Zeichengebung wurde vom Orchester bestens umgesetzt. Ein Dirigat, das viele vielleicht als „kompetent“, aber „nichts Besonderes“ einstufen mögen (worauf der nicht übermäßge starke Applaus schließen lässt), aber im besten Sinn werkgerecht war.
Die Sänger fanden damit eine für sie optimale Situation vor. Die wirklich optimalen Leistungen dreier Ensemble-Mitglieder kamen dadurch wohl noch besser zur Geltung.
In der Titelrolle der Rachel, die Soile Isokoski schon vor Monaten zurückgelegt hatte, ersang sich Olga Bezsmertna einen neuen Supererfolg. Ihr hell leuchtender Sopran scheint seit der Rusalka im Herbst schon wieder gewachsen zu sein, hat neuerdings an Kraft und Wohlklang gewonnen und konnte die liebend-verzweifelte, opferbereite , vermeintliche Tochter des Juden Eléazar allein schon vokal glaubhaft machen, spielte die Rolle aber auch derart natürlich, dass man sie mühelos mit der Figur zu identifizieren vermochte. Genauso war es bei Aida Garifullina der Fall. Nicht nur ist sie ein Bild von einer Prinzessin Eudoxie, sondern in ihren anmutigen Bewegungen, ihren liebevollen Vorbereitungen für die Ehrung des untreuen Gemahls, ihrer tiefempfundenen Enttäuschung und ihrem gleichsam selbstverständlichen Gang zur Nebenbuhlerin zwecks Fürsprache für ihren Leopold ungemein sympathisch und singt dazu die extreme Sopranrolle mit beweglicher Stimme und leicht ansprechender Höhe bezaubernd. So weit die jüngsten Neuerwerbungen von Direktor Meyer. Trotzdem möchte ich den allerersten Preis einem alteingessenen Ensemble-Mitglied überreichen: Dan Paul Dumitrescu hat sich mit einem großartig gesungenen und verkörperten Kardinal Brogny endgültig in die erste Reihe der Bässe begeben – ja, ich zögere nicht, ihn jetzt als den besten Bassisten des Hauses zu bezeichnen! Diese angenehme, runde, volle, warme und, wie man hier hörte, sehr kraftvolle und expansionsfähige Basstimme, die auch mit einer wirklich sonoren Tiefe aufwarten kann, verdient, auf Dauer im sog „ersten“ Fach eingesetzt zu werden. Ich möchte ihn als Sarastro hören, als Gurnemanz, als Daland, als König Philipp, als Padre Guardian, als Fiesco, als Wassermann….Dieser von schlechtem Gewissen geplagte, zur Güte neigende, aber seiner gestrengen Christenpficht nicht entkommende Kardinal büßt bekanntlich sein Fehlverhalten aufs grausamste, als er am Schluss begreifen muss, dass er sein eigenes Kind, das ein Jude ihm vor dem Tod gerettet hatte, nun selber in den Tod geschickt hat. Diesen Konflikt baut Dumitrescu sehr anschaulich bis zum Zerreißpunkt auf und bricht beim letzten Fallen des Vorhangs buchstäblich zusammen. Und das alles mit nie erlahmender Stimmschönheit. Da kann die Direktion sich wirklich eine Menge Gast-Bassisten ersparen!
Ja, und daneben gab es auch noch zwei Tenöre. Erst zu Mittag hatte Neil Shicoff auch diese Reprise abgesagt. Nun war zum Glück bereits vor Tagen ein Einspringer angereist und hatte sich in die Inszenierung einweisen lassen. Kein Tenor der Spitzenklasse, aber einer für diese Partie, die ja auch von einem sog. Charaktertenor gesungen werden kann. Direktor Meyer teilte vor dem Vorhang mit, dass John Uhlenhopp die Rolle vor 10 jahren zum letzten Mal gesungen hatte und er seinen Mut bewundere, nun hier einzuspringen. Nach einem Tristan und einem Paul in der „Toten Stadt“ war ich dem Sänger eher ausgewichen. Vergleichsweise klang seine ausgesprochen unschöne Stimme hier besser. Dass sie ihm ausgerechnet in der großen Arie im letzten Akt plötzlich den Dienst aufzusagen drohte, war in der psychischen Situation des Eleazar irgendwie begreiflich und daher verzeihlich. Irgendwie kam er aber doch über die Runden und erspielte sich durch eine gute Darstellung der Figur auch gewisse Sympathien. Der Leopold, Rachels geheimer christlicher Liebhaber, ist ja eigentlich unsingbar, sowie sein wankelmütiger, feiger Charakter. Unter Weglassung der Exremtöne (ich glaube, er hat 2 hohe C‘s zu singen) brachte der Hausdebutant Jason Bridges mit recht ansprechendem Timbre eine ordentliche Gesangsleistung zustande. Gabriel Bermudez (Ruggero), Marcu Pelz (Albert), Hacik Bayvertian und Hiro Ijichi (2 Bürger) sowie Martin Müller als Offizier waren gute Kleinrollenträger. Der folklotistisch gewandete, Fähnchen-schwingende Chor, von Thomas Lang für die 4 Aufführungen (von denen die erste wegen Shicoffs Absage entfallen musste) neu einstudiert, stellte seinen „Mann“.
Gerade dieses Stück, wo Christen und Juden sich wechselweise schuldig machen, wo die Titelheldin sich letztlich als Nicht-Jüdin erweist, nachdem sie allen denkbaren Schikanen ausgesetzt war, die man diesem Volk immer wieder hat angedeihen lassen, und wo für den tenoralen „Helden“ der Tod einem Wechsel des Glaubensbekenntnisses vorgezogen wird, fragt man sich wirklich: Was ist der Unterschied zwischen den „Rassen“ (um die es damals, zwischen Mittelalter und Neuzeit) ja noch gar nicht ging, sondern ausschließlich um den Glauben bzw. dessen Verfolgung)? Doppelmoral hat es immer gegeben. Hier wird sie ganz besonders anschaulich – so drastisch, dass eigentlich nur noch die Musik die Situation erträglich machen kann.
Man muss diese Erfolgsproduktion aus der Ära Holender gesehen und gehört haben. Am besten gleich in den nächsten beiden Aufführungen.
Sieglinde Pfabigan