WIEN / Staatsoper: „LA BOHÈME“ – 05.09.2022
Eigentlich sollte die neue Saison an der Wiener Staatsoper mit der lang ersehnten Wiederaufnahme der Krämer-Inszenierung von Halévys „La Juive“ eröffnet werden. Da jedoch Sonya Yoncheva und Roberto Alagna krankheitsbedingt abgesagt haben und für die anspruchsvollen Rollen der Rachel und des Éléazar bis zu Probenbeginn kein Ersatz gefunden werden konnte, wurde der Spielplan kurzfristig geändert. Operndirektor Bogdan Roščić ist ein veritabler Coup gelungen. Er setzte eine der wohl schönsten Opernproduktionen der Wiener Staatsoper, Zeffirellis Inszenierung von Puccinis „La Bohème“, an und konnte dafür Anna Netrebko und Vittorio Grigolo in den Hauptrollen gewinnen.
So kehrte Anna Netrebko nach längerer Zeit endlich wieder ans Haus am Ring zurück, früher als geplant (im Jänner soll sie hier die Aida singen). Dabei war ihre Rückkehr umstritten. Die vor Beginn der Vorstellung vor dem Haus angekündigte Demonstration geriert zur Farce, es sollen insgesamt mehr Polizisten als Demonstrierende anwesend gewesen sein. Und beim ersten Auftritt Netrebkos mischten sich in den Auftrittsapplaus lautstarke Buhs. Beides wäre entbehrlich gewesen, ja möglicherweise hat der Auftrittsapplaus erst die Buhrufer zu ihrem lautstarken Protest animiert. Wie auch immer, ich möchte mich an dieser Stelle hier nicht damit befassen, ob ihre öffentliche Stellungnahme zu Putins Angriffskrieg zu spät kam oder nur halbherzig erfolgte oder was auch immer. Ich möchte mich hier nur mit ihrer Leistung auf der Bühne beschäftigen.
Das Orchester der Wiener Staatsoper schien sich noch etwas in Urlaubslaune zu befinden. Unsaubere und ungenaue Einsätze sowie Wackelkontakte zur Bühne hinterließen nicht gerade einen berauschenden Eindruck. Wenn man das Orchester gerade erst bei den Salzburger Festspielen gehört hat, könnte man fast glauben, hier sitzt nun die Ersatzmannschaft des Orchesters im Graben. Und tatsächlich sind die Wiener Philharmoniker schon wieder auf Tournee. Bertrand de Billy hatte alle Hände voll zu tun um alles zusammenzuhalten. Die Wackelkontakte werden sich im Laufe der Aufführungsserie wohl noch beheben lassen, der Dirigent könnte dabei auch die Lautstärke etwas drosseln.
Vittorio Grigolo war als Rodolfo mit jugendlichem Elan wieder in seinem Element. Wie immer gibt er alles, die umwerfende Leidenschaft auf der Bühne geht aber zuweilen auf das Konto der teilweise angestrengt klingenden gesanglichen Leistung. Vor allem zu Beginn klang die Stimme sehr hart. Während ihm das hohe C in seiner Arie sehr gut gelang, hatte er am Ende des 1. Bildes beim Schlusston des Liebesduetts entweder nicht genug Kraft oder nicht mehr genug Atem, jedenfalls hätte er den Versuch das hohe C zu singen wohl besser gelassen. Seine „Mimi!“-Rufe am Schluss klingen hingegen nach ehrlicher Verzweiflung. Dazwischen gelingen ihm auch immer wieder wunderschön phrasierte Pianopassagen, da muss man ihm einfach die weniger gelungenen Töne verzeihen.
Martin Häßler bestätigte als Schaunard den positiven Eindruck, den er bereits im Jänner in dieser Partie hinterlassen hat. Neu in der Männer-WG waren George Petean als Marcello und Günther Groissböck als Colline. Beide zeichneten sich durch engagierte Spielfreude aus; man konnte ihnen ansehen, dass sie es genossen haben einmal keinen Gott, Feldherren, König oder Bösewicht darstellen zu müssen. Günther Groissböck hat als Colline bewiesen, dass ein Philosoph nicht nur über eine schöne Bassstimme verfügen sollte, sondern durchaus auch sportlich agil sein kann. George Petean ist ein musikalischer Marcello mit schöner Phrasierung, der einen sympathischen Charakter darstellt; ein gutmütiger Kerl, den Musetta leicht um den Finger wickeln kann. Diese wurde von Nina Minasyan gesungen. Die armenische Sängerin ist nicht nur hübsch, sondern verfügt auch über genügend Stimmvolumen. Allzu oft wurde die Partie der Musetta an der Wiener Staatsoper in den letzten 15 Jahren mit stimmschwachen Soubretten besetzt, da ist man schon froh, wenn eine Sängerin sich in dieser Rolle mühelos gegen das laute Orchester durchsetzen kann.
Und Anna Netrebko? Wer gedacht hatte, dass sie nach Aida, Lady Macbeth und Turandot den lyrischen Ansprüchen einer Mimì nicht mehr gewachsen wäre, wurde eines Besseren belehrt. Auch 12 Jahre nach ihren bis jetzt einzigen zwei „Bohème“-Vorstellungen in Wien kehrt sie nicht den Opernstar heraus; sie fügt sich überzeugend in das Geschehen, ist ein zerbrechliches Mädchen, das sich verliebt und nach kurzem Glück ihr noch junges Leben aushaucht. Mit strahlenden Höhen, üppiger Mittellage, schöner Phrasierung und beispielhafter Pianokultur ließ sie stimmlich keine Wünsche offen. In Abwandlung eines alten römischen Sprichwortes möchte man fast sagen: sie kam, sang und siegte!
Der Jubel am Schluss übertönte die vereinzelten, völlig unangebrachten Buhrufe. Jeder, der eine Karte für eine der Reprisen Karten besitzt, kann sich glücklich schätzen. Und wer keine Karte hat, kann sich auf die TV-Übertragung am 18. September auf ORF III freuen.
Möge diese schöne Aufführung ein gutes Omen für die soeben angelaufene neue Spielzeit sein!
Walter Nowotny
P.S.: Es ist mit unverständlich, warum man Frauen mit Babys oder Kleinstkindern in die Oper einlässt. Bis zur Pause wurde das Publikum auf der Galerie von einem andauernd schreienden und weinenden Kind gestört. Und die Tatsache, dass ausgerechnet jetzt die kaputten Betonblöcke auf der Terrasse der Galerie getauscht werden, wo man gerade noch wettermäßig vor der Vorstellung und in der Pause frische Luft genießen könnte, ist äußerst ärgerlich. Seit Jahren weiß man, dass die Terrasse saniert werden muss. Hätte man das nicht in den Monaten Juli/August machen können? Wer von der Bundestheaterverwaltung ist für diese Misswirtschaft verantwortlich?