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WIEN / Staatsoper: Georges Bizets CARMEN

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Anna Goryachova (Carmen) und Vittorio Grigolo (Don José). Alle Fotos: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper: Bizets CARMEN mit vielen Rollendebüts

11. Aufführung in dieser Inszenierung

1. April 2022

Von Manfred A. Schmid

Bieitos Inszenierung ist schonungslos brutal. Ohne jegliche Zugeständnisse an folkloristische „Lustig ist das Zigeunerleben, faria, fariaho“-Romantik geht es hier ums bloße Überleben in einer grausamen, von Gewalt und Aggressivität dominierten Welt. Im Mittelpunkt steht nicht das Bürgertum, sondern die soziale Unterschicht. Schon die ersten Szenen – der Aufmarsch der Soldaten, die Micaela bedrohlich einkreisen und bedrängen, sowie die heftig streitenden Arbeiterinnen der Tabakfabrik – lassen keine Zweifel darüber aufkommen, dass in dieser Gesellschaft Konflikte, Rivalitäten und physischen Tätlichkeiten bis hin zu Mord und Totschlag auf der Tagesordnung stehen. Dieses Gewaltpotenzial, das immer wieder durchbricht und manifest wird, zieht sich wie ein Leitfaden durch alle vier Akte. Dazu kommt – als Strategie des Überlebens – das Ausweichen in die Illegalität, in Schmuggel und Prostitution. Das minderjährige Mädchen, das immer wieder auftaucht und mit dem einer der Soldaten tanzen wird, zeigt offen auf, welchen Weg es – vermutlich viel zu bald und viel zu früh – einschlagen wird.

In dieser brutalen Welt bestehen, ist eine stete Herausforderung. Anna Goryachova ist als Carmen in dieser Inszenierung nicht ideal besetzt. Sie hat einen anmutigen, samtigen Mezzosopran, den sie auch verführerisch einsetzen kann, doch es fehlt ihr an emotionaler Robustheit und animalischer Sinnlichkeit, wie sie von der Premierenbesetzung Anita Rachvelishvili überzeugend verkörpert wurde. Zudem ist ihre Rossini-Stimme doch etwas zu klein für diese Rolle in diesem großen Opernhaus, an dem sie als Olga in Eugen Onegin, aber auch in La Cenerentola schon tadellos eingesetzt war. Dass Goryachova im 2. Akt eine Spur streckenweise etwas distonierend klingt, sei hier nur erwähnt, fällt aber nicht allzu sehr ins Gewicht.

Vittorio Grigolo, jüngst erst als hervorragender Cavaradossi gefeiert, ist bei seinem Rollendebüt ein gesanglich einwandfreier Don José, dem die Blumenarie erwartungsgemäß bestens gelingt. Die komplexe Persönlichkeitsstruktur dieser Mannes, der zwischen einem Leben mit Anstand oder im Untergrund, zwischen der Hingezogenheit zur verlässlichen Micaela oder der Liebe zur unberechenbaren Carmen hin und hergerissen ist, schließlich alles auf eine Karte setzt und alles verliert, vermag er nicht sichtbar zu machen. Seine Beziehung zu Carmen, was ihn in ihre Arme treibt, bleibt verborgen. Was aber umgekehrt auch auf Carmen zutrifft. Was sie an ihm findet, ist ebenfalls nicht zu fassen. Erst wenn sein Rivale Escamillo zur tatsächlichen Gefahr wird und Eifersucht und Entfremdung seine Haltung bestimmen, nimmt die gefährliche Beziehung zwischen Carmen und Don José jene Farben der Leidenschaftlichkeit auf, die man zuvor vermisst hat.

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Alexander Vinogradov (Escamillo).

Die weitaus beste Leistung des Abends verbucht Alexander Vinogradov als Escamillo. Ein eleganter, ausdrucksstarker Bass, der auch in den geforderten Höhen überzeugen kann. Der Torero wird oft klischeehaft als testosterongesteuerter, eitler Macho dargestellt, der von den Massen gefeiert wird. Vinogradovs Escamillo strahlt hingegen Intellekt und Autorität aus. Er weiß, dass er die Massen braucht, aber er lässt sich von ihnen nicht vereinnahmen und ist nicht der Freund ihrer Capos. Ihm ist der Aufstieg gelungen. In Wahrheit lebt er in einer anderen Welt. Daher würde seine Liebschaft mit Carmen auch nur eine Episode sein. Ein imponierendes Rollendebüt. Diesen Sänger möchte man gerne öfters erleben.

Ein rundum gelungenes Hausdebüt ist die ukrainische Sängerin Olga Kulchynska als Micaela, die unbeirrt um die die Aufmerksamkeit und Liebe Don Josés wirbt und ihn – vergeblich – vom Abgleiten in die Illegalität bewahren will. Ein fein geführter, schlanker Sopran mit Zukunft.

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Olga Kulchynska (Micaela).

In den weiteren Rollen kommen drei gute Paare aus dem Haus zum Einsatz. Ileana Tonca und Isabel Signoret (Rollendebüt) sind als Fasquita und Mercédès quicklebendige, spielfreudige und gesanglich markante Erscheinungen, Peter Kellner und Martin Häßler treten als rücksichtslose, stets gewaltbereite Soldaten Zuniga und Moralès auf. Carlos Osuna und Michael Arivony (Rollendebüt) vertreten als stets schlagfertige Schmugglerbandenführer Remendado und Dancaire die Unterwelt.

Im Orchestergraben sorgt mit Alejo Pérez ein weiterer Hausdebütant für einen insgesamt zufriedenstellenden Opernabend, an dem auch der Chor und der Kinderchor der Staatsoper großen Anteil haben. Der Beifall ist dementsprechend groß. Vittorio Grigolos Applaus-Verhalten ist in Wien bereits bekannt: Zuerst die Hände weit ausbreiten, um die Welt zu umarmen, dann geht es auf die Knie, um, wie der Papst, die Bretter zu küssen, die ja auch die Welt bedeuten. Kusshändchen für das Publikum natürlich inbegriffen. Aktueller und spektakulärer diesmal die Debütantin Olga Kulchynska, die die blaugelbe Flagge ihrer umkämpften Heimat Ukraine durch die Luft wirbeln lässt und dann von der russischen Kollegin Goryachova herzlich umarmt wird. So soll es sein. Kunst verbindet. Trennt nicht.

2.4.2022

 

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