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WIEN / Staatsoper: Gaetano Donizettis LA FILLE DU RÉGIMENT

Ein Tenor erklimmt den stimmlichen Mount Everest, eine desatröse Diseuse stürzt etwas ab

Marie (Jane Archibald) imitten der Soldaten, die sich allesamt als ihre Väter und für sie verantwortlich  fühlen. Alle Fotos: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper: Gaetano Donizettis LA FILLE DU RÉGIMENT

30. Aufführung in dieser Inszenierung

26. September 2020

Von Manfred A. Schmid

Gleich in medias res, d.h. ins vokale Zentrum der Aufführung: Neunmal, knapp aufeinander folgend, muss in dieser aus besetzungstechnischen Gründen nicht so oft auf den Spielplänen vertretenen Oper der Sänger des Tonio das hohe C schmettern. Dem mexikanischen Tenor Javier Camarena gelingt dies auch am dritten Abend der derzeit laufenden Aufführungsserie bravourös. Kein Wunder, dass es auch diesmal zu einer Wiederholung der heiß erwarteten Arie „Ah, mes amis“ kommt, was dann freilich auch bedeutet, dass dieser stimmliche Hochseilakt ein weiteres Mal zu bewältigen ist. Da braucht bei Camarena keine Angst aufkommen, ist der Tiroler Bauernbub Tonio doch gewissermaßen seine Leibrolle, mit der er seit einigen Jahren auf den großen Opernbühnen der Welt zu Gast ist und immer wieder Bewunderung und stürmische Beifallskundgebungen einheimst. Camarena gehört damit – an der Seite von Juan Diego Florez – zu den wenigen Sängern, die in diesen Tagen diesen Mont Everest der Tenöre spielerisch erklimmen.

Stimm- und atemtechnisch ist er bestens ausgerüstet für diese Herausforderung. So will etwa die Legato-Passage in der Arie „Pour me rapprocher de Marie“ im zweiten Akt schier kein Ende nehmen. Tonio beschwört darin seine Liebe zur scheinbar unerreichbar gewordenen Marie. Ein emotionales Crescendo der Verzweiflung, das in einem herzergreifenden hohen D seinen Höhepunkt erreicht. Anders als etwa in Nemorinos melancholisch gestimmten „Una furtiva lagrima“ in Donizettis Liebestrank, nimmt hier, in Camarenas intensiver Gestaltung, die Verzweiflung geradezu tragische Züge an. Man begreift, was hier auf dem Spiel steht: Dass er Marie tatschlich verlieren könnte.  Camarenas besticht aber nicht nur mit seinem atemberaubenden sängerischen Können, sondern auch durch seine enorme Bühnenpräsenz, die er auch in den komischen Momenten treffsicher einzusetzen weiß. Von gedrungener Gestalt, ist sein Tonio zunächst nur der unbeholfene, patscherte Naturbursche aus den Tiroler Bergen. Sein nervöses Agieren steht am Beginn der Oper in einem starken Kontrast zur geordneten Welt des Militärs. Sogar in seiner Beziehung zu Marie wirkt er da etwas deplatziert, wie ein in eine fremde Umgebung hineingeworfener Exot. Aber Camarenas Tonio gewinnt nach und nach immer mehr an Persönlichkeit und Reife, und aus dem Bergbauernbub wird ein gestandener Mann, der in der an mehreren Bühnen nachgespielten Inszenierung von Laurent Pelly dann sogar mit einem Panzer auf das Anwesen derer von Berkenfield zusteuert.

Jane Archibald (Marie), Javier Camarena (Tonio), Carlos Álvarez (Sulpice)

In Jane Archibald, die mit ihrem Auftritt als Mathilde in Rossinis Guillaume Tell vor zwei Jahren am Theater an der Wien noch in guter Erinnerung ist, hat Camarena eine gesanglich und darstellerische gute Ergänzung gefunden. Nimmt man die Reaktionen auf die beiden ersten Abende zur Kenntnis, scheint sich hier eine alte Erfahrung wieder einmal bestätig zu haben: Wurde der aus Kanada stammenden Sopranistin spielerisch erst noch kleine Mängel attestiert, so hat sie sich inzwischen bestens in die Gegebenheiten dieser Produktion eingelebt. Spätestens im dritten Durchlauf scheint alles bestens zu klappen. Die Protagonisten kennen sich in der Inszenierung aus, die Abläufe wirken vertraut und geradezu natürlich, und der Sopranistin gelingen die Koloraturen der Marie, die zwischen ihrer Treue zum Regiment und der aufkeimenden Zuneigung zu Tonio schwankt, in bewundernswerter Manier. Trotz ihrer technisch ausgereiften, durch ein klares, helles Timbre geprägten, in der Höhe zuweilen etwas engen Stimme vermag Archibald der unbekümmerten Jugendlichkeit und Verliebtheit angemessen Ausdruck zu verleihen. In der „Gesangsstunde“ am Beginn des zweiten Akts kann sie auch ihre komödiantischen Fähigkeiten hervorragend ausspielen.

Ganz in seinem Element als köstlich komischer Sulpice ist der famose Carlos Álvarez, der schon in der Premiere 2007 dabei war. Ein profunder, warm klingender (Bass-)Bariton, der Menschlichkeit und Anteilnahme ausstrahlt, für Lacher sorgt und überaus sympathisch wirkt. Donna Ellen, die selbst einmal die Marie gesungen hat, ist eine nicht besonders auffallende, aber grundsolide Marquise von Berkenfield. Marcus Pelz hat zwar nicht viel zu singen, macht aus seiner Rolle als Haushofmeister Hortensius aber ein komödiantisches Kabinettstück.

Bei der Besetzung und musikalischen Umsetzung der Partie der Herzogin von Crakentorp scheiden sich die Geister. Bei einem Gutteil des Publikums scheinen Maria Happels Auftritt und ihre Version von Edith Piafs Chanson „Milord“ recht gut anzukommen. Der Rezensent kann diesem Auftritt einer desaströsen Diseuse allerdings wenig abgewinnen. Da haben in der Vergangenheit andere Kaliber für mehr Furore gesorgt, wenn auch kaum jemals so einzigartig wie einst die jüngst verstorbene Ruth Bader Ginsburg. Die ikonenhafte Richterin am Obersten Gerichtshof der USA war im November 2016 an der Washington National Opera als Duchess of Crakentorp aufgetreten. Ihren Text dazu, gespickt mit humorvollen Bezügen zur Politik, hatte sie selbst verfasst. Eine nicht leicht zu toppende Einlage und offenschtlich ebenso schwer auch nur annähernd nachzubesetzen wie derzeit ihr Sitz im Supreme Court.

Evelino Pidos Dirigat ist makellos und mit erforderlicher Verve ausgestattet, das Orchester hörbar in bester Spiellaune. Es dominiert Donizettis Italianitá mit alpenländischen Einsprengseln, auch wenn es sich um die französische Fassung des Werks – es gibt auch eine italienische – handelt. Der Chor – im ersten Akt Soldaten, die über den mit plastischen geographischen Landkarten ausgelegten Boden (Bühne von Chantal Thomas) marschieren und flanieren, im zweiten Akt in gemischter Aufstellung die dekadente und vergreiste adlige Gesellschaft verkörpernd – geht mit Engagement und humorvoll ans Werk. Länger anhaltender, starker Applaus.

26.9.2020

 

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