WIEN / Staatsoper: György Kurtágs Oper von Samuel Becketts FIN DE PARTIE
Premiere
16. Oktober 2024
Von Manfred A. Schmid
Samuel Becketts 1956 uraufgeführtes Stück Fin de Partie (Endspiel) über das Versickern der Lebens im Nichts (?) wurde wechselseitig dem absurden Theater und dem französischen Existenzialismus zugeschrieben, gehört aber, gemeinsam mit seinem ebenfalls rätselhaften Welterfolg Warten auf Godot, eher zu den raren Monolithen des modernen Theaters. Alleine dastehend, verstörend, nicht enträtselbar und gerade deshalb offen für immer neue Deutungsversuche. Wenn nun Staatsoperndirektor Bogdan Roscic für die Inszenierung der in jahrelanger Arbeit entstandenen und 2018 an der Mailänder Scala uraufgeführten Oper des ungarischen Komponisten György Kurtág den Regisseur Herbert Fritsch beauftragt hatte, konnte man sich schon ein Bild machen, wohin die Reise gehen würde. Doch statt der erwarteten hemmungslosen Clownerie wählt er einen tragikomischen Zugang zu den absurden Vorgängen auf der Bühne, der sich eher an die Tradition der italienischen Commedia dell’arte orientiert als an drastischer, schenkelklopfender Brachialkomik. Auch die großen Komödianten der amerikanischen Stummfilmära haben in seiner Inszenierung ihre Spuren hinterlassen. Dass er dafür ein gutes Gespür hat, hat Fritsch bereits am Burgtheater mit seiner Inszenierung von Molieres Der eingebildete Kranke gezeigt sowie, wenn auch da schon stellenweise stark überzeichnend und übertrieben, in seinem Barbiere di Siviglia an der Staatsoper.
Im vielseitigen Bariton Georg Nigl als Diener Clov sowie im amerikanischen Tenor Charles Workman (Nagg), aber auch in Philippe Sly (Hamm) und Hilary Summers (Nell) hat er versierte Mitstreiter gefunden, denen es gelingt die verstörenden Zustände auf der Bühne – der blinde Hamm terrorisiert und kontrolliert vom Rollstuhl aus seine Eltern Nagg und Nell, die bei einem Umfall ihre Beine verloren haben und in zwei Mülltonen hausen und schließlich verstummen – etwas zu entschärfen. Die sinn- und belanglosen Dialoge und Monologe, mit denen sich zu Wort melden, sind in der beklemmenden Untergangsstimmung angesichts einer globalen Katastrophe deprimierend genug, da bieten die pantomimischen Einlagen eine willkommene Abwechslung. Gleich zu Beginn hantiert Clov, umständlich und an Buster Keaton erinnernd, mit einer Stehleier auf der Bühne herum und gibt seine Abneigung gegenüber seinem Herrn und Peiniger kund. Bunt und unterhaltend soll es sein. Daher ist auch die Bühne – wie die Kostüme ebenfalls von Fritsch ersonnen – keinesfalls trostlos, sondern hell gehalten: viel Weiß, ein bisschen Grau und etwas Schwarz. Durch das Fenster blickt eine helle Umwelt herein ins Zimmer. Von einem drohenden Weltuntergang keine Spur. Lichtprojektionen von Friedrich Rom sorgen für geometrische Verschiebungen an den Wänden, auch Schattenbilder von Clov und Hamm sind zu sehen. Harmlos und alles andere als ein dämonisch furchterregendes Menetekel an der Wand
Deutung wird hier jedenfalls keine versucht und ist wohl auch nicht gefragt. Dem Publikum gefällt es sichtlich. Es zeigt sich vom Gebotenen angetan, wie seine heiteren Reaktionen nahelegen. Spaß muss sein. Und angesichts eines bevorstehenden Weltuntergangs wäre das vielleicht auch eine durchaus erwägenswerte Alternative.
Die Musik von György Kurtág ist, trotz des in der Partitur vorgesehenen großen Orchesters mit viel Schlagwerk, nie erdrückend, sondern leicht und transparent, was vor allem an der Instrumentierung liegt, bei der Kurtág jeweils meist nur limitierte Instrumentalgruppen heranzieht. Er betreibt eine Art musikalischen Pointilismus, bei dem die Punkte, auf die es ankommt, weit auseinanderliegen und nur höchst selten dichtgedrängt in Erscheinung treten. Simone Young am Pult des Staatsopernorchesters gelingt es bewundernswert, diesen einzigartigen musikalischen Kosmos zum Klingen zu bringen. Eine gewisse Heiterkeit und Helligkeit inmitten all der Kleinlichkeit der auf der Bühne ausgetragenen Konflikte ist nicht zu überhören.
Was Kurtág für die Stimmen geschrieben hat, ist geprägt vom Rhythmus der Sprache und dem Sprechduktus. Die in der zeitgenössischen Musik üblichen mörderischen Tonsprünge kommen bei ihm kaum vor, nur in Momenten höchster Erregung, und auch die vielen Taktwechsel nimm man gar nicht so sehr als solche zur Kenntnis, weil sie dem Sprachgebrauch nicht fremd sind. Die gesanglichen Leistungen sind dennoch hoch einzuschätzen und durchwegs bravourös.
Charles Workman als Nagg ist ein wunderlicher alter Herr, der sich mit seinem hellen Tenor nach besten Kräften einmischt und als einziger so etwas wie Optimismus versprüht und nicht aufgibt, seine Frau in der Tonne nebenan zu bezirzen. Mit Keksen, aber auch mit Geschichten und Witzen. Philippe Sly, an der Staatsoper als Leporello in Koskys Don Giovanni bekannt, ist sein übel gelaunter Sohn Hamm, der Clov nach allen Regeln der Kunst schikaniert. Sein „Leporello“ ist diesmal Georg Nigl als Diener Clov, der sich nicht unterkriegen lassen will und auch darstellerisch höchst präsent ist, weil nur er mobil ist und so die ganze Bühne beherrscht. Ein Sänger/Schauspieler erster Güte. Hilary Summers erfüllt die Rolle der sich als Märtyrerin empfindenden Nell mit ihrem warmen Mezzosopran, bevor sie für immer in die Tiefen der Tonne abtaucht.
Ein großer Publikumserfolg, wie man ihn bei einer zeitgenössischen Oper in diesem Haus schon lange nicht mehr erlebt hat. Der Schlussapplaus liegt mit acht Minuten auch klar über der gewohnten Dauer von nur fünf Minuten. Ein Wagnis, dass sich gelohnt hat.