WIEN / Staatsoper: FALSTAFF
47. Vorstellung in dieser Inszenierung
14. Juni 2022
Von Manfred A. Schmid
Ein Falstaff, der trotz seiner Fehler schließlich nicht doch auf Sympathie treffen würde, wäre eine Themenverfehlung und nicht im Sinne Giuseppe Verdis, der sich von seinem ihm ans Herz gewachsenen „Titelheld“ – nach Beendigung der Komposition – herzlich verabschiedet hatte: „Alles ist zu Ende! Geh, geh, alter John. Lauf dahin auf deinem Weg, so lange du kannst … Lustiges Original eines Schurken; ewig wahr, hinter jeglicher Maske, zu jeder Zeit, an jedem Ort!! Geh … Geh … Lauf Lauf … Addio!!!“
Und Verdis Sir John läuft und läuft, immer weiter, schon seit 125 Jahren. Nicht immer aber so gelungen, so wendig, so komisch und doch so einnehmend, vor allem aber so toll gesungen wie derzeit an der Wiener Staatsoper. Schon der Blick auf die Besetzungsliste lässt die Erwartungen in die Höhe schnellen. Was das Publikum dann aber tatsächlich zu sehen und zu hören bekommt, ist ein ungetrübter, hochwertiger Opernabend, der den üblichen Rahmen einer Repertoireaufführung qualitativ bei weitem sprengt.
Im Mittelpunkt steht Gerald Finley, der bei seinem Rollendebüt in der Titelpartie Kollegen wie Carlos Álvarez und Wolfgang Koch, die zuletzt an der Staatsoper in dieser Rolle zu erleben waren, spielerisch übertrifft und derzeit – gemeinsam mit dem temperamentmäßig ganz anders in Erscheinung tretenden Ambrogio Maestri – wohl als der beste Gestalter dieser Figur gelten kann. Auch Finleys Falstaff ist natürlich fett, eitel, töricht und manchmal auch abstoßend, aber er bewahrt in seinem Kern immer noch ein Stückchen Würde. Dieser Falstaff ist und bleibt eben ein Sir. Ein verarmter Landadeliger, der die Schwächen seiner Mitmenschen in einer Gesellschaft erkennt, die sich gewandelt hat und in der Standespersonen wie er nicht mehr den hohen Status einnehmen, den sie einst innehatte. Ein Schwerenöter, dem auch seine eigenen Schwächen nicht fremd sind. Was die Voraussetzung dafür ist, dass er auch über sich selbst lachen kann. „Tutto nel mondo è burla!“ Das ist seine Antwort auf eine Welt, die für ihn aus den Fugen geraten ist, in die er sich aber nicht zähneknirschend, sondern heiter und gelassen zu behaupten bemüht ist.
Verwunderlich, dass Gerald Finley in Wien bisher nur selten – als Graf Almaviva, Förster und Amfortas – zu sehen war. Umso erfreulicher, dass der kanadische Sängerdarsteller hier nun in einer seiner komödiantischen Paraderolle (er singt aber auch Wagner und wirkt in zeitgenössischen Opern mit) zu bewundern ist. Ein facettenreicher, farbiger Bassbariton, der Falstaff in all seinen vertrackten Lebenslagen lebendig werden lässt – bis hin zum komischen Nachäffen einer Frauenstimme.
Erstklassig ist auch Eleonora Buratto, die die Aktionen der lustigen Weiber von Windsor anführt und als Alice Ford ihren einnehmenden Sopran hell leuchten lässt. Assistiert wird ihr dabei von Mrs. Quickly, die von Monika Bohinec gewohnt souverän und mit komischer Finesse gestaltet wird. Die Begrüßung Fallstaffs mit drollig tiefen Reverenza-Tönen ist ebenso köstlich wie die Ballettschritte, mit denen sie sich im dritten Akt trippelnd vom Ort des Geschehens entfernt.
Dem vielseitigen Ensemblemitglied Boris Pinkhasovich verdankt man einen stimmlich und darstellerisch gelungenen Mr. Ford, der kanadische Tenor Frédéric Antoun ist ein erfreulicher Fenton. Von der an der Stimme zerrenden Nervosität bei seinem Hausdebüt als Alfredo im Vorjahr ist diesmal nichts zu bemerken.
Große komödiantische Wendigkeit zeichnet Thomas Ebenstein aus, der den Dr. Cajus als schrullige Figur über die Bühne humpeln lässt. Komisch, wie es sich gehört, sind auch Daniel Klug bei seinem Hausdebüt als Falstaffs Diener Bardolfo und Ilja Kazakov als dessen Kollege Pistola, was beim begeisterten Schlussapplaus im bei weitem nicht ausverkauften Haus auch entsprechend gewürdigt wird.
Überhaupt gilt, dass diesmal das gesamte Ensemble einheitlich gut besetzt ist. Dazu gehören auch Vera-Lotte Boecker, die als Nanetta mit ihren langgezogenen, silbrig hellen Spitzentönen bezaubert, Isabel Signoret aus dem Opernstudio als Meg Page und Noah Schuster als Robin.
Der Dirigent Giampaolo Bisanti, an der Staatsoper seit 2018 kein Unbekannter mehr, ist dabei, sich neben Marco Armiliato und Evelino Pidò als dritter Garant für gelungene Aufführungen von Werken aus dem italienischen Fach zu etablieren. Hinter jedem guten Opernabend steht immer auch ein guter musikalischer Leiter. Bisanti am Put des Staatsopernorchesters muss diesmal – am Applaus gemessen, aber auch aus eigener Wahrnehmung – besonders gut gewesen sein.