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WIEN / Staatsoper: EUGEN ONEGIN von Piotr I. Tschaikowski

Ein Hoch auf den Staatsopernchor! - Warum nicht gleich?

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Erwiderte Liebe sieht anders aus. Asmik Grigorian (Tatjana) und André Schuen (Onegin). Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper: EUGEN ONEGIN von Piotr I. Tschaikowski

4. Aufführung in dieser Inszenierung

15. Oktober 2021

Von Manfred A. Schmid

Erst die vierte Aufführung dieser Neuproduktion, und schon drohte ein – logistisch allerdings vorprogrammierter und damit selbstverschuldeter – Supergau: Am Morgen wird die Direktion informiert, dass der eigens für diese Produktion engagierte Chor aus der Slowakei – wegen Covid19-Erkrankung einiger Mitglieder – nicht werde anreisen können. Was folgt, ist ein hektischer Tag mit eingeschobenen Proben, denn gerade der Chor hat in der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov viel zu tun, nicht nur gesanglich, sondern er ist auch in die Handlung stark eingebunden. Als Hauspersonal, Bauernchor und Gäste im Landgut der Eltern von Tatjana und Olga sowie beim Ball am Hofe von Fürst Gremin, der hier allerdings gar kein Ball ist, wovon später noch die Rede sein wird. Bevor der Vorhang aufgeht, tritt der Staatsoperndirektor vor das Publikum und lobt den tapferen Einspringer, auf den immer Verlass sei: den vielgerühmten Chor des Hauses, um den uns viele Bühnen in aller Welt beneiden und der auch an diesem Tag, unter widrigen Umständen, sich bestmöglich bewährt und dafür sorgen wird, dass die Vorstellung weitgehend klaglos über die Bühne gehen kann. Trotz dieser enormen Herausforderung ist anzunehmen, dass der Auftritt des von Thomas Lang in Blitzeseile einstudierten Staatsopernchors an diesem Abend von seinen Mitgliedern nicht zuletzt auch als Genugtuung empfunden wird.

Das alles hätte man sich freilich ersparen können, denn schon bei der Premiere im Herbst vergangenen Jahres, knapp vor dem ersten Lockdown, rätselten Medien und Publikum darüber, warum man überhaupt auf die wahnwitzige Idee gekommen sein mag, für diese Oper einen fremden Chor einzukaufen. Das hieße ja Eulen nach Athen tragen. Doch die merkwürdige Einkaufspolitik des nicht mehr ganz so neuen Staatsoperndirektors ist eben nicht immer nachvollziehbar. Immerhin hat man Ähnliches auch am Beginn der Direktionszeit seines Vorgängers Dominique Meyer erlebt, der bei der vom ihm forcierten Wiedereinführung des Genres Barockoper ins Repertoire des Hauses für die erste Produktion partout ein französisches Orchester importiert musste. Musste? War ihm das Staatsopernorchester – gemeinhin als Ableger der Philharmoniker bekannt – dafür nicht gut genug?

Nach diesen Vorgeschichten nun aber in medias res. Die bereits 2006 in Russland entstandene Inszenierung von Dmitri Tcherniakov, die Bogdan Roscic für Wien eingekauft hat, wirkt auch beim zweiten Besuch wie ein Schlafmittel. Um ein Entschlummern zu verhindern, baut der Regisseur allerdings immer wieder ein paar Schockmomente ein, die gegen den Strich, sprich: gegen das Libretto, angelegt sind. Da singt etwa der Chor, dass Eugen und Tatjana tanzen, die beiden aber stehen da wie eingefroren. Lenski macht sich als Pseudo-Triquet zum bemitleidenswerten Kasperl, Olga sucht ungerührt ihren verlorenen Ohrring, statt Anteil am sich fatal zuspitzenden Streit zwischen ihrem Bräutigam Lenski und dem leichtsinnig flirtenden Onegin zu nehmen. Nicht zu vergessen Tcherniakovs Königsidee, den Saal im Hause der Gutsbesitzerswitwe Larina als Einheitsbühne zu verwenden, führt dazu, dass Lenski seinen Tod nicht in einem Duell findet: Bei der Rangelei um ein Gewehr löst sich ein Schuss aus, er fällt um, und alle schauen zu. Auch am Hof von Fürst Gremin wird nicht getanzt. Wozu hat Tschaikowski all diese wunderbar perlenden Tänze geschrieben?

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Da Olga Lenski (Bogdan Volkov) nicht weiter beachtet, stellt ihm der Regisseur in seiner Abschiedsarie als erfundene Figur die gealterte Olga zur Seite. Sie hat ein Ohr für ihn. Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Musikalisch kämpfen die Protagonisten und das insgesamt gut agierende Orchester unter der Leitung von Tomás Hanus gegen die allgemein herrschende Lethargie an. André Schuen in der Titelpartie verfügt über eine wohltönende, modulationsstarke Baritonstimme, tritt darstellerisch aber erst im Schlussakt so richtig in Erscheinung, als er, triefend vor Selbstmitleid, sich in eine vornehme Abendgesellschaft bei Fürst Gremin mischt, von den Anwesenden aber ignoriert wird und durch ungebührliches Benehmen Aufsehen erregt. In den Akten zuvor steht er meist nur bedeutungsschwer herum oder stolziert durch die Gegend. Opernbesucher werden Inszenierungen in Erinnerung haben, bei denen man dem eitlen Landedelmann zumindest im letzten Akt, als er einmal noch verzweifelt das Steuer auf seinem verpfuschten Lebensweg herumreißen will, etwas Sympathie und Mitleid entgegenbringt. Die Art, wie hier – in der Lesart von Regisseur Tcherniakow – Onegin ans Werk geht, macht dies freilich so gut wie unmöglich. Hier hat man es mit dem unsympathischsten Eugen Onegin zu tun, den man sich vorstellen kann. Auch eine Leistung. Aber Tschaikowskis und Puschkins Titelheld ist vielschichtiger, komplexer, komplizierter. Der von Tcherniakov, bei der Aufführung anwesend,  ist vor allem eines: anders. Das genügt heute schon.

Bogdan Volkov als zartbesaiteter Dichter Lenski verfügt über einen ebenso zartbesaiteten lyrischen Tenor, der vor allem in seiner letzten Arie vor dem (hier nicht stattfindenden Duell) zu berühren vermag, zuweilen aber stimmlich zu wenig durchsetzungsstark wirkt, was freilich recht gut mit dessen Wesensart korrespondiert.

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Da es in der zur Verfügung gestellten Auswahl kein Bild mit dem so geforderten Chor gibt, hier ein Handy-Foto vom Applaus, Foto: M. A. Schmid

Für die erkrankte Nicole Car übernimmt Asmik Grigorian bei ihrem Wiener Rollendebüt den Part der zartfühlenden, unschuldsvollen, schwärmerischen Tatjana, die im Schlussakt an der Seite von Fürst Gremin zu einer gereiften, treuen Ehefrau geworden ist, die von Onegin nochmals leidenschaftlich herausgefordert wird, sich dann aber klar zu ihrer jetzigen Lebensentscheidung bekennt. Auch sie wirkt, in der unentschlossenen Personenführung des Regisseurs, in 1. und 2.  Akte meistens zu passiv. Eine Ausnahme ist die Briefszene. Hier tritt sie stark in Erscheinung, stößt in höchster Erregung Stühle um und tänzelt, hin und hergerissen von entflammten Emotionen, auf dem Tisch umher. Man hat Tatjanas große Arie schon schöner gesungen gehört. Hier meint man zunächst den großen Bogen zu vermissen. Doch bald wird man positiv überrascht und nimmt zu Kenntnis: Die innere Zerrissenheit, ihre aus dem Lot geratene seelische Verfassung, die überspannten und übereilten Erwartungen an die Zukunft und die Angst davor – all diese Reflexionen und Ausbrüchen spiegelt ihre Arie trefflich wider. Das gelingt der litauischen Sopranistin hervorragend. Das ergriffene Publikum dankt mit ungewöhnlich langem Applaus, so dass ein Dacapo an diesem Abend ohne Weiteres im Bereich des Möglichen gewesen wäre.

Als ihre Schwester Olga kommt, wie schon in der Premiere, Anna Goryachova zum Einsatz. Darstellerisch in dieser Inszenierung ein allzu kokettes, selbstverliebtes und leichtfertiges Persönchen, stimmlich den Tiefen dieser Partie nicht ganz gewachsen.

Als Fürst Gremin setzt Dimitry Ivashenko seinen soignierten Bass unspektakulär, aber mehr als rollendeckend ein, was auch für Dan Paul Dumitrescu als Saretzki gilt. Helene Schneiderman ist eine übertrieben gestikulierende, nervende Larina. Wie sie ist auch  Larissa Diadkova eine auch stimmlich schon sehr in die Jahre gekommene Mitwirkende, in ihrem Fall als Amme Filipjewna.

Das Publikum reagiert einhellig begeistert und mit viel Applaus. Mag sein, dass da auch Dankbarkeit angesichts der vom Herrn Direktor anfangs erwähnten schwierigen Bedingungen mitspielt. Oder aber die schaurige Erinnerung an die frostige Eishockeyplatz-Vorgängerinszenierung, die nun endgültig abgelöst ist.

 

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