„Elektra“ von Richard Strauss als Stream in der Wiener Staatsoper
Im Netz der Abhängigkeiten
„Elektra“ von Richard Strauss am 19. 12. 2020 als Stream aus der Wiener Staatsoper/
Die legendäre Inszenierung von Harry Kupfer hat nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt. Sie war auch schon in der Stuttgarter Staatsoper mit der stimmgewaltigen Gabriele Schnaut zu sehen. Eine überdimensionale Statue des toten Vaters Agamemnon beherrscht hier die düstere Szenerie, dessen Kopf zu seinen Füßen liegt. Sie spielt eine zentrale Rolle in Harry Kupfers subtiler Inszenierung – und die Protagonisten hängen an Seilen, die sich wie geheimnisvolle Spinnenfänden zusammenziehen. Elektrisierende Spannung spürt man schon zu Beginn, wenn die Mägde im Hof des überdimensional großen Königspalasts Wasser schöpfen. Elektra wagt sich hier nicht hervor, sie steht vielmehr sofort sehr selbstbewusst im Raum. Allerdings fällt auf, dass Ricarda Merbeth den lyrischen Kantilenen der Kindesliebe mehr Gewicht verleiht als dem dissonanten „Hass“-Akkord. Sie träumt vom Tag der Rache, den sie mit ihrer Schwester Chrysothemis und ihrem Bruder Orest vollziehen will. Die Ermordung des Vaters soll gerächt werden. Das fatale Netz der Abhängigkeiten wird auch in der Begegnung Elektras mit ihrer Schwester Chrysothemis sichtbar, die sich gegen diese Umklammerung heftig wehrt. Harry Kupfer gelingt es bei seiner Inszenierung immer wieder ausgezeichnet, das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen den einzelnen Figuren lebendig werden zu lassen (szenische Einstudierung: Angela Brandt; Bühne: Hans Schavernoch; Kostüme: Reinhard Heinrich). Herzstück dieser Inszenierung ist dann in jedem Fall die erregende Begegnung Elektras mit ihrer Mutter Klytämnestra, die ebenfalls wie einige andere Frauenfiguren einen seltsamen Turban und weite Gewänder trägt. Sie kann sich auch nicht aus dem unentwirrbaren Spinnennetz unterschiedlichster Regungen und Gefühle befreien. Vor allem rückt ihr die wütende Elektra auf den Leib, die Distanz zwischen den beiden Frauen fällt in bestürzender Weise: „Was bluten muss? Dein eigenes Genick!“ Selbst wenn sich hier die explosive Kraft einer Leonie Rysanek oder Astrid Varnay nicht in gleicher Dimension einstellt, besitzt diese Szene dennoch packende Schlagkraft. Größere Entfernung herrscht dann bei der Begegnung Elektras mit ihrem Bruder Orest, wobei sich dabei allmählich eine berührende seelische Gemeinsamkeit offenbart, selbst wenn man die Erkennungsszene mit dem dissonanten Akkord bei Elektras Schrei „Orest!“ schon ekstatischer gehört hat. Die Ermordung der Mutter Klytämnestra und ihres Liebhabers Aegisth findet schließlich im Dunkeln statt. Der abschließende Freudentaumel verläuft in Kupfers Inszenierung eher kontrolliert als ausgelassen, wieder gewinnen die gespenstischen Seile (die an der Statue befestigt sind) eine geheimnisvolle Präsenz. Elektra hängt sich zuletzt an ihnen auf, sie ist dem psychischen Ausnahmestress offensichtlich nicht mehr gewachsen. Diese Situation kann die stimmlich weitgehend überzeugende Ricarda Merbeth als traumatisierte Elektra sehr gut einfangen. Schon im Anfangsmonolog gelingt es ihr, sich mit großem gesanglichem Klangfarbenreichtum gegen die mörderischen Fluten des Riesenorchesters durchzusetzen. Natürlich besitzt sie nicht die grandiosen Trompetentöne einer Birgit Nilsson, aber ihr Timbre und die Mittellage sind insgesamt tragfähiger als beispielsweise bei Deborah Polaski. Das Agamemnon-Thema und die innigen melodischen Sequenzen der Kindesliebe entfalten einen reichen Zauber. Camilla Nylund vermag der Rolle der Chrysothemis ebenfalls prägnant gerecht zu werden. Sie macht plastisch deutlich, wie sehr diese sich in einem seelischen Ausnahmezustand befindet. Doris Soffel ist eine imponierende Klytämnestra, deren Mezzosopran zu den unterschiedlichsten Gefühlsregungen fähig ist. Auch das Höllengelächter bei der Nachricht von Orests angeblichem Tod geht dem Zuhörer dabei durch Mark und Bein. Jörg Schneider fesselt als von Angst getriebener Aegisth mit höhensicherem Tenor, während Derek Welton als Orest mit voluminösem, wandlungsfähigem Bariton souverän agiert. In weiteren Rollen gefallen ferner Marcus Pelz als der Pfleger des Orest, Anna Nekhames als Vertraute, Stephanie Maitland als Schleppträgerin, Michael Laurenz als junger Diener, Dan Paul Dumitrescu als alter Diener und Donna Ellen als Aufseherin. Die fünf Mägde sind mit Monika Bohinec, Noa Beinart, Margaret Plummer, Regine Hangler und Vera-Lotte Boecker ebenfalls opulent besetzt. Und die sechs Dienerinnen überzeugen in der ausdrucksstarken Darstellung von Maria Isabell Segarra, Jung Won Han, Jozefina Monarcha, Dymfna Meijts, Karen Schubert und Zsuzsanna Szabo. Das Orchester der Wiener Staatsoper unter der Leitung von Franz Welser-Möst musiziert wieder einmal fabelhaft. Das Fortschreiten der Harmonik verhüllt dabei keineswegs die Motiv-Vielfalt. Auch die psychische Polyphonie kommt dabei nicht zu kurz. Und die zahlreichen „Seile“ und komplizierten thematischen Verästelungen werden hier im Orchestergraben in faszinierender Weise entwirrt. Franz Welser-Möst legt auf die auch bei Richard Strauss durchaus erkennbare „unendliche“ Melodie sowie geschmeidige Legato-Bögen großen Wert. Die Sängerinnen und Sänger werden so nie „zugedeckt“. Klangsinn und Virtuosität dieser Partitur blitzen bei der konzentrierten Wiedergabe immer wieder grell auf, vor allem die Orchesterfarben leuchten in den unterschiedlichsten Schattierungen. Die plastischen Themen prägen sich so leichter ein. Leidenschaftliche Emphase und differenzierte Harmonik stehen dicht beieinander.
Alexander Walther