Simone Schneider (Chrysothemis). Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
WIEN/ Staatsoper: ELEKTRA am 15.2. 2020
Das Merker-Amt sieht sich bisweilen mit einer gewissen Befangenheit konfrontiert, immer dann nämlich, wenn zu unmittelbar zurückliegenden Vorstellungen aus dem Kollegenkreis bereits überaus positive, ja beinahe euphorische Kommentare vorliegen, und wenn trotzdem nach wenigen Minuten eigenen Erlebens klar wird, dass sich diese Euphorie bei einem selbst nicht vorbehaltlos einstellen wird.
Das wird zunächst an der musikalischen Auffassung von Semyon Bychkov gelegen haben, der den umfangreichen Apparat aus Orchester und Chor der Wiener Staatsoper (letzterer einstudiert von Martin Schebesta) sowie die Schar der Solisten über die Subtilität der Partitur hinweg, dynamisch wenig differenziert in einer Lautstärke, die niemals unter das Mezzoforte ging, durch den Abend führte. Unwillkürlich wurde man das „Gänsebraten“-Bonmot erinnert, das Christian Thielemann im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit der „Frau ohne Schatten“ geprägt hat, und das sich wohl auch auf diese „Elektra“ anwenden ließe …
Christine Goerke. Garderobenselfie auf Instagram
Am meisten durch den ungezähmten Einheitsklang in Bedrängnis gebracht wurde die Elektra von Christine Goerke, die trotz unüberhörbarem Kraftaufwand phasenweise unhörbar blieb. Überhaupt konnte die amerikanische Sopranistin die in sie gesetzten Erwartungen (zumindest an diesem Abend) nicht erfüllen. Denn selbst wenn man die Beeinträchtigung, welche ihre Bühnenerscheinung durch das unvorteilhafte Kostüm erfuhr, in Rechnung stellt, bleibt ihre Atriden-Tochter verhalten und auch im großen Ausbruch seltsam temperamentlos. Stimmlich lässt sie gelegentlich in der Tiefe und der unteren Mittellage wuchtige Töne hören, die sie als Klytämnestra gut gebrauchen könnte. Ansonsten ist vieles unsauber intoniert, mal kehlig, mal scharf, die Höhen in der Attacke kommen unfrei und stumpf, die Sprache, in der gesungen wird, kann man nur erraten. Mit den großen Interpretinnen, die man in Wien in dieser Produktion zu Gesicht bekam, wie Stemme oder Herlitzius, kann sie so jedenfalls nicht mithalten (schon gar nicht, wenn man den Betrachungshorizont noch weiter, über Marton und Jones hinweg zurück bis zu Nilsson, spannt).
Wesentlich Erfreulicheres ließen dafür Elektras Geschwister von sich hören. So ist Simone Schneider eine souveräne, höhensichere Chrysothemis, wie man sie am Ring tatsächlich lange nicht erlebt hat, und Michael Volle gestaltet die Rolle ihres Bruders mit einem kräftigen, maskulinen Bariton, von dem man gerne einen Holländer oder Ähnliches hören würde.
Waltraud Meiers steht mit ihrer Klytämnestra unterdessen in der Tradition vieler namhafter Kolleginnen, denen diese Rolle noch die Möglichkeit bot, sich am Ende einer großen Karriere ihrem Publikum zu präsentieren. Dabei ist es wirklich bemerkenswert, wie es ihr noch immer gelingt, durch intelligentesten Einsatz der begrenzten stimmlichen Mittel, vor allem aber durch prägnanteste Artikulation und eine ungeheure Körpersprache das packende Profil einer alten, von ihren Alpträumen geplagten, keinesfalls aber ihrer hoheitlichen Würde beraubten Königin von Mykene zu zeichnen. Respekt. Norbert Ernst war ihr ein stimmlich solider „Buhle“ und Usurpator des Thrones ihres ermordeten Gatten. Bei den zahlreichen kleinen und kleineren, wenngleich im Detail ebenfalls sehr anspruchsvollen Partien zeigte das Haus, auf welchem vermutlich beispiellosen Niveau es solche Rollen besetzen kann.
Ein ordentlicher Repertoire-Abend also, kein Anlass für ausufernde Begeisterung (außer vielleicht über die Tatsache, dass es für die Inszenierung von Uwe Eric Laufenberg wenigstens gerüchteweise die letzte Reprise war), für die zahlreich – teilweise sogar mit ihren halbwüchsigen und noch kleineren Kindern – erschienenen Touristen aber möglicherweise die längsten anderthalb Stunden ihres Lebens.
Valentino Hribernig-Körber