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WIEN / Staatsoper: DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL – Neuenfels

Konstanze & Co. mal zwei oder Der inszenatorische Dopplereffekt zieht nicht mehr

Verdopplungen noch und noch: Christian Natter (Belmonte – Schauspieler), Daniel Behle (Belmonte), Michael Laurenz (Pedrillo), Ludwig Blochberger (Pedrilo – Sänger). Alle Fotos: Wiener Staatssoper / Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper: DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL in der Inszenierung von Hans Neuenfels

Premiere

12. Oktober 2020

Von Manfred A. Schmid

Warum das Risiko einer Neuproduktion wagen, wenn man bequem einfach shoppen gehen kann. Dies mag dem Staatsoperndirektor Bogdan Roscic durch den Kopf gegangen sein, als er die Premieren für die erste Saison seiner Direktionszeit zu planen begann. Gesagt getan. Und mit Anthony Minghellas Londoner Madama Butterfly aus dem Jahr 2005 landete er gleich einen Volltreffer, der das Publikum noch lange erfreuen wird. Nun, mit der Präsentation der zweiten, diesmal in Stuttgart eingekauften Premiere sieht die Sache mit der gewitzten Shoppingtour schon etwas anders aus: Die Inszenierung von Mozarts Die Entführung aus dem Serail von Hans Neuenfels hat über zwanzig Jahre auf dem Buckel und entpuppt sich bei der Premiere als Ladenhüter aus der Blütezeit des Regietheaters am Ende des vergangenen Jahrhunderts/Jahrtausends. Diese Entführung wird dem Repertoire noch lange schwer im Magen liegen.

Was tut ein Regisseur, wenn ihn einmal partout nichts einfallen will? Er greift in die Trickkiste des Regietheaters und zaubert den „Dopplereffekt“ hervor: Die handelnden Personen eines Stücks – einer, zwei oder alle – bekommen ein mehr oder weniger identisches Gegenüber an ihre Seite gestellt. Damit ließen sich, so die Begründung, die Konflikte und Wiedersprüche, die in der Psyche eines Menschen miteinander streiten, anschaulich auf die Bühne bringen. Das hat oft genug auch tatsächlich gut funktioniert. Kein Wunder, Ferdinand Raimund war einer der ersten, das in einer etwas sublimeren Form in seinem Alpenkönig und Menschenfeind umgesetzt hat. Inzwischen aber, weil zu oft angewendet, ist dieses Wundermittel längst schal und zum Schlafmittel geworden. Derzeit versucht man dem Dopplereffekt mit dem Einsatz von Puppen neues Leben einzuhauchen. Einen der jüngsten Versuche in diese Richtung unternahm Nikolaus Habjan, indem er am Theater an der Wien der Titelfigur der Salome eine sie stets begleitende Puppe zugesellte. Bei der derzeitigen Inflation von Puppen auf den Bühnen ist auch hier ein baldiges Ende vorhersehbar.

Dessen ungeachtet gibt es genug Gründe für den Verdacht, dass der Dopplereffekt, wie er 1998 von Neuenfels in Stuttgart angewendet und allseits gelobt wurde, schon damals misslungen war, weil er das falsche Objekt betraf. Die handelnden Personen in Mozarts Singspiel sind von Anfang an keine Persönlichkeiten, sondern Typen. Schablonen also, denen in der Handlung und in den dürftigen Texten von Christoph Friedrich Bretzner und Johann Gottlieb Stephanie wenig Platz für eine Entwicklung eingeräumt werden. Dass es so eine Entwicklung aber doch gibt, liegt einzig und allein an der musikdramatischen, psychologisch ungemein feinfühligen Herangehensweise Mozarts, der in den Arien und Duetten die Tiefen der Seelen meisterlich auszuloten versteht. Neuenfels misstraut aber offenbar dieser Kraft der Musik, auf die er sich verlassen sollte, und versucht die Textgrundlage zu verändern, d.h. zu erweitern, und führt die Verdopplung der Personen ein. Konstanze, Blonde, Belmonte, Pedrillo und Osmin bekommen so je einen Schauspieler/eine Schauspielerin an ihre Seite gestellt. Das verstärkt empfindlich das in diesem Singspiel ohnehin vorhandene Ungleichgewicht zwischen Musik und Text. Neuenfels fügt den an sich schon banalen Dialogen in seiner Fassung weitere banale Phrasen hinzu, was sogar dazu führt, dass eine Szene zweimal gespielt und gesprochen (!) wird – von den Sängern und den Schauspielern. Damit zieht sich alles quälend noch mehr in die Länge, der Text – es gibt auch auf Englisch gesprochene Passagen – verdrängt die Musik und macht sie zur Nebensache. Dazu trägt auch ein fruchtbar peinlicher Vogeltanz einer Kinderschar bei. Der Versuch von Neuenfels, mit Wendungen wie „me too“ dem mediokren Text einen Anschein von Aktualität zu geben, führt nicht zum Ziel. Alsbald wartet man – genervt und ermüdet vom Palaver und Getue und viel zu lange – nur noch auf die dazwischen erklingende, erlösende Musik.

Lisette Oropesa (Konstanze), Emanuela von Frankenberg (Konstanze – Schauspielerin), Ludwig Blochberger (Pedrillo – Schauspieler)

Die musikalische Seite dieses Premierenabends bietet zum Glück Gelegenheit, auch über Erfreuliches zu berichten. Der Dirigent Antonello Manacorda lässt die Höhen und Tiefen, wie sie von den handelnden Personen auf ihren verschlungenen Pfaden durchwandert werden, hörbar werden. Er betont die unterhaltsame Funktion dieser genialen Musik. Nicht große Oper ist angesagt, sondern bekömmliche Unterhaltung meisterhafter Art, wozu auch die die „türkischen“ Anklänge an die Musik der Janitscharen gehören. Die zu vernehmende Leichtigkeit, der „Flow“, der sich einstellt, bedeutet aber nicht, dass es die Sängerinnen und Sänger in diesem Singspiel etwa leicht hätten. Ganz im Gegenteil. Die Arien und Duette sind sehr fordernd, vor allem was die Atemtechnik und den Stimmumfang betriff. Goran Juric etwa entpuppt sich in der Rolle des Osmin als Fehlbesetzung, weil in seinem Arien-Highlight „Ha, wie will ich triumphieren“ die dafür erforderlichen tiefen Töne nicht hörbar über die Bühne bringt.

Gesanglich und darstellerisch den besten Eindruck hinterlässt die Sopranistin Lisette Oropesa als Konstanze. Die Koloraturen und die hohen D’s in ihrer Arie „Martern aller Arten“ gelingen ihr wunderbar. In der tiefen Lage trifft ihr schlanker Sopran zuweilen auf seine Grenzen, insgesamt aber ein gelungenes Hausdebüt. Regula Mühlemann, die im Februar als Adina an der Staatsoper debütierte und sich für weitere Rollen empfahl, ist eine stimmsichere, ausstrahlungsstarke Blonde, neckisch und kokett. Und freudvoll in ihrer lebensbejahenden Arie „Welche Wonne, welche Lust“.

Daniel Behle, der bereits 2007 als Nemorino in Wien auf der Bühne der Staatsoper stand, präsentiert sich nun als Belmonte als gereifter, fein timbrierter Tenor, der längst auch schon die kleineren Wagner-Rollen bis hin zum Lohengrin erobert hat. Ein viriler, stimmstarker Sänger, mit einem Tenor, beweglich wie ein Florett. Nicht ganz so überzeugend ist diesmal das vielseitig einsetzbare Ensemblemitglied Michael Laurenz. Seine Wiedergabe der Arie „Frisch zum Kampfe, frisch zum Streite“ hört sich etwas uneinheitlich an. Mit Pedrillos Romanze „In Mohrenland gefangen war“, in der er auch stimmlich komische Gestaltungsmerkmale einfließen lässt, kann er hingegen eindeutig punkten.

Andreas Grötzinger (Osmin – Schauspieler), Ludwiog Blochberger (Pedrillo – Schauspieler)

Wenn es in diesem Singspiel eine Figur gibt, bei der es sich tatsächlich ausgezahlt hätte, den Dopplereffekt anzuwenden, dann wäre das die Sprechrolle des Bassa Selim (Christian Nickel) gewesen. Dieser, ein gebürtiger, von Belmontes Vater arg gedemütigter Spanier, einst Christ und jetzt Muslim, der sich als aufgeklärter Herrscher sieht, aber seine latente Brutalität und Aggressivität kam im Zaum halten kann und sich letztendlich doch zu einem großmütigen Verzicht auf Rache bereit zeigt, ist eine komplexe, faszinierende Gestalt. Ausgerechnet zu ihm ist aber Neuenfels so gut wie nichts eingefallen. Außer ein merkwürdiges Gedicht von Mörike, das er am Schluss rezitiert und wohl eine wichtige Botschaft vermitteln sollte, die beim Publikum aber, wie so vieles an diesem Abend, weil zu lang, einfach nicht ankommt.

Vereinzelte Buhrufe schon während der Vorstellung, geballt dann am Schluss. Beifall für die Sänger – auch für das das Solistenquartett mit Svenja Kallweit, Mari Nakayama, Tamas Latona und Peter Dollinsek, sowie für die Schauspieler Emanuela von Frankenberg, Stella Roberts, Christian Natter und Andreas Götzinger, die  ihr Bestes geben, aber ihren Einsatz doch nicht so recht legitimieren können. Und schließlich auch das leading team rund um Regisseur Hans Neuenfels, der angesichts der lautstarken Proteste ebenso weltverloren und überholt wirkt wie seine ganze Inszenierung.

13.10.20

 

 

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