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WIEN / Staatsoper: CARMEN von Georges Bizet

Carmen ganz auf Verismo getrimmt - und wie es klappt!

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Erwin Schrott (Escamillo) und Ensemble. Alle Fotos Staatsoper Wien / Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper: CARMEN von Georges Bizet

29. Mai 2021

3. Aufführung in dieser Inszenierung

Von Manfred A. Schmid

Vieles spricht dafür, in Bizets Oper Carmen einen kühnen Vorläufer des Verismo zu sehen. Calixto Bieito hat diese Erkenntnis ernst genommen und in seiner inzwischen vielerorts nachgespielten und nun – mit gut 20 Jahren Verspätung – von Staatsoperndirektor Bogdan Roscic auch nach Wien importierten Inszenierung zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen gemacht. Alles was den Verismo prägt – übersteigerter Realismus, durch Leidenschaft bestimmtes Handeln der involvierten Personen, malerische Charakterisierung der Schauplätze, weitgespannte Melodik bis hin zur folkloristischen Übernahme regionaler wie auch exotisch anmutender Melodien und Rhythmen sowie die drastische Darstellung von Grausamkeit – all das findet sich tatsächlich bereits in Bizets Oper und wird vom Regisseur konsequent umgesetzt. Das Resultat mag sich zuweilen etwas kolportagehaft ausnehmen, denn die feine Klinge ist hier gewiss nicht am Werk. Radikal aber räumt Bieito mit romantischen Vorstellungen à la „lustig ist das Zigeunerleben, faria, fariaho“ auf und bringt die dahinter liegenden brutalen gesellschaftlichen Verhältnisse ungeschönt auf die Bühne. Außerdem versetzt er die Handlung in die 50-er oder 60-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. – Warum auch nicht? Österreich verzeichnet heuer traurigerweise bereits 11 Frauenmorde, in den meisten Fällen ausgelöst durch Eifersucht. Man könnte die Oper also durchaus mit Gewinn auch in der Gegenwart ansiedeln, denn genau diese Thematik wird in Bizets Meisterwerk exemplarisch verhandelt und auf die Bühne gebracht. Kein Wunder, dass das Publikum bei der Uraufführung geschockt war und sich die Oper erst allmählich durchsetzen konnte.

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Michèle Losier (Carmen) und Dmytro Popov (Don José)

Natürlich geht es in Bietos Umsetzung auch um Sex und Alkohol, wie naserümpfend festgestellt wurde. Letztlich dreht sich aber alles um Gewalt und zunehmende Verrohung. Deshalb agiert Don José in dieser Inszenierung bereits mehrmals einschlägig gewalttätig gegenüber Carmen, bevor er sie schließlich – beleidigt, abgewiesen, in seinem Männerstolz verletzt – ersticht. Und er bleibt beileibe nicht der Einzige, der so handelt. Vielmehr herrscht eine bedrohliche latente Gewaltbereitschaft, die mehrmals eskalierend hervorbricht.

Das ist gewiss nichts für sensible Feingeister, denen die harmlos romantisierenden Inszenierungen von vorgestern lieber wären. Aber die Verhältnisse, wie bei Brecht nachzulesen, „sie sind nicht so“. Der gestrenge Musikkritiker Eduard Hanslick hat sich schon zur Blütezeit des Verismo, 1880 – 1920, empört über dessen Zumutungen geäußert. Hundert Jahre Jahre später erregen sich darob die Gemüter weiter, wie manchen Rezensionen zu entnehmen ist. Der obligate einsame Buhrufer fehlt natürlich auch diesmal nicht. Das Publikum aber zeigt sich insgesamt sichtlich berührt vom Dargebotenen und klatscht am Ende dankbar, wenn auch enden wollend. Zum knalligen Beginn des 4. Akts, wenn Alt und Jung den Einzug der Stierkämpfer in die Arena feiern und wie heutige Fans eines Popkonzerts jubelnd und johlend bis zum Absperrseil vordringen, gibt es sogar heftigen Szenenapplaus für die exzellenten Chöre der Staatsoper und der Opernschule.

Musikalisch bleiben allerdings einige Wünsche offen. Wäre es eine Repertoirevorstellung, könnte man sie durchaus als solide bezeichnen. Es ist allerdings erst die 3. Vorstellung nach der (gestreamten) Premiere! Die durch Covid verursachten Verschiebungen und Ungewissheiten haben dazu geführt, dass die schwer zu toppende Starbesetzung der Premiere nicht gehalten werden konnte. Verglichen mit den Leistungen von Piotr Beczala und Anita Rachvelishvili steht die nunmehrige Besetzung daher leider ziemlich verloren in deren Schatten.

Auch bei Bieitos insgesamt stimmiger und konsequenter Umsetzung ist längst nicht alles als gelungen zu bewerten. Der erste Akt hat – bis es zum Auftritt Micaelas kommt – nur die in militärischem Drill aufmarschierenden Wachsoldaten aufzubieten, die lautstark das Menschengewühl auf dem Platz besingen. Außer ihnen gibt es aber nur einen weiteren Soldaten mit nacktem Oberkörper, der, das Gewehr in der Hand, strafweise seine Runden zu drehen hat. Als sich endlich die Fabrikarbeiterinnen zu ihnen gesellen und anbandelnd Kontakte geknüpft werden, erweist sich die Personenführung weiterhin ziemlich einfallslos, was zum Teil aber auch der zunächst eher farblos in Erscheinung tretenden Carmen liegt. Michèle Losier gelingt es da nicht, das Augenmerk auf sich zu ziehen. Auch stimmlich zeigt sie sich zunächst blass, kann sich dann aber von Akt zu Akt einigermaßen steigern, ohne aber wirklich voll zu überzeugen.

Der 2. Akt auf einem Parkplatz, diesmal mit einem die Runden drehenden Auto, bietet den weiteren Personen der Handlung Gelegenheit, sich zu profilieren. Peter Kellner ist ein raubeiniger Zuniga, Clemens Unterreiner als Dancaire der unbestrittene Capo der Schmugglerbande, während die Handlung, immer brutaler werdend, langsam in eine Spirale der Gewalt einmündet. Erwin Schrott hat seinen ersten kurzen Auftritt als Escamillo, gebärdet sich aber mehr als verwegen-lässiger Anführer einer Mafiabande denn als Torero. Im 3. Akt kann er dann seine darstellerischen Fähigkeiten deutlicher ausspielen und hinterlässt mit seinem sonoren Bariton insgesamt einen guten Eindruck.

Szilvia Vörös entpuppt sich als eine eher unspektakuläre Mercédès, Ileana Tonca gibt eine annehmbare Frasquita. Rollendeckend zum Einsatz kommen Martin Häßler als Moralès und Carlos Osuna als Remendado. Die Liebesbeziehung zwischen Carmen und Don José hat im 2. Akt ihre erste Belastungsprobe zu überstehen. Der ukrainische Tenor Dmytro Popov, an der Staatsoper längst kein Unbekannter mehr, kann seine Erfahrung in dieser Rolle ausspielen und führt vor Augen, wie er der Verführungskunst Carmens immer mehr verfällt. Sein geradliniger, geschickt geführter, wohlklingender Tenor, ausgestattet mit einen oszillierenden Vibrato, vermag in der Blumenarie „La fleur que tu m’avais jetée” nicht nur die fordernde Carmen, sondern auch das Publikum zu bezaubern.

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Micaela (Vera-Lotte Boecker) kämpft um ihren Gelioebten Don José (Dmytro Popov).

Im 3. Akt, ebenfalls auf einem Parkplatz voll von mit Schmuggelware beladenen PKWs, kann Vera-Lotte Boecker mit ihrem feinen und ausdrucksstark geführten Sopran und berührendem Spiel punkten. Zu Recht wird sie für Ihre innig vorgetragene Arie „Je dis que rien ne m’épouvante“ mit Applaus belohnt. Auch am Schluss vor dem Vorhang wird das Ensemblemitglied an diesem Abend am stärksten akklamiert. Legato, das sollte einmal festgestellt werden,  können im Übrigen alle.

Das Orchester der Staatsoper unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada, Chefdirigent der Wiener Symphoniker, taucht ein in die elektrisierende, pulsierende Musik Bizets, bleibt aber insgesamt doch unterkühlt. Etwas mehr Temperament und Zügigkeit hätte man sich unter der Stabführung eines hispanischen  Dirigenten wohl erwartet. Leider sind auch ein paar Unpässlichkeiten zu registrieren, u.a. ein verfrühter Einsatz bei den Holzbläsern im 4. Akt.

Erbarmungslos leer ist die Bühne im letzten Akt. Leer wie die Beziehung zwischen Don José und Carmen, die nur noch den alles beendenden Tod als Lösung anzubieten hat. Warum aber immer wieder ein älterer Herr im weißen Anzug und mit ebensolchem Hut seinen Auftritt hat und dabei wie ein Mitglied des ehrenwerten Buena Vista Social Clubs wirkt, weiß man nicht genau. Da er aber stets ein rotes Tuch in der Hand hält und es einmal wie bei einem simulierten Stierkampf einsetzt, dürfte es sich bei ihm wohl um den Torero a.D. handeln, der sich an das damalige Geschehen erinnert und es noch einmal durchlebt. Dass man es mit der political Correctness lächerlich übertreiben kann, ist dem deutschen Text auf den Monitoren zu entnehmen. Als Carmen bekennt, dass es ihr bei ihren Liebschaften nicht auf Rang und Namen ankommt, gibt es folgende Übersetzung zu lesen: „Für mich als Romni“ sei das nicht von Bedeutung. Und die Operette Der Zigeunerbaron heißt demnächst vermutlich Der Sintibaron.

 

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