WIEN / Staatsoper / STREAM CARMEN 21. Febr. 2021 – Nachinszenierungs-Premiere
Tim Theo Tinn: methodisch pragmatische Anmerkungen zur Auffrischung ehemals guter Zeitgeist-Inszenierung nach 22 Jahren!
Fade Regie – Plörre, ohne Rollenporträts
Viele Rezensionen der Aufführung erscheinen in Gemeinplätzen und unentschlossen. Rhetorischer Automatismus scheint nicht immer von gesundem Menschenverstand geprägt. Vor 22 Jahren soll das mal ambitioniertes Musiktheater gewesen sein, die aktuelle Ausprägung an der WST0 wirkt unausgegoren.
Daher entwickelt TTT hier eine Bewertung aus „handwerklicher“ Sicht zur szenischen Einrichtung, vor dem Hintergrund 15jähriger Spielleiter – Erfahrungen. Laufende szenische Einstudierungen neuer Besetzungen in bestehende Inszenierungen erlauben einen routinierten Blick.
Schöne Erinnerung ist z. B. eine Butterfly–Einweisungsprobe mit Christa Ludwig, Giacomo Aragall, Dirigent Giuseppe Patanè u.a. Patanè war kumpelig, Frau Ludwig erzählte von den Schlagersänger-Anfängen ihres Sohnes – alle haben ausgesungen, es war grandios. Bei der Vorstellung „schmiss“ Aragall dann wie ein Ketzer. Nach dem ersten Akt suchte der stellvertretende Intendant dieses internationalen Hauses über Lautsprecher-Durchsage einen Tenor für den 2 Akt. Meinen feixenden Hinweis, dass der Tenor im 2. Akt Butterfly nichts macht, hat mir dieser spätere Intendant nie verziehen (wir sahen uns später vor Gericht).
Calixto Bieitos Carmen-Inszenierung war vor 22 Jahren prägend und wichtig, traf nicht TTT’s Ausrichtung. Werkimmanent der dramatischen Struktur folgend sind Ort und Zeit verändert, konnten aber an damaligen Zeitgeist anknüpfen, während TTT gem. seinen Plädoyers für werkimmanente Surrealität hier im Merker Feuilleton überzeitliche (über der Realität stehende) Deutungen als wegweisend betrachtet
An der WSTO scheint eine schludrige szenische Einrichtung einer interessanten dramaturgischen Sichtung die Qualität genommen zu haben. Das ließe sich noch ändern.
Sei’s drum. Auf YouTube u.a. findet man einige Zeugnisse dieser Inszenierung an anderen Orten mit verinnerlichten affektiven Darstellungen/Aufbereitungen. Diesen Anspruch erfüllt die Einrichtung der Wiener Staatsoper nicht („Affektiv“ hat TTT kürzlich in der Aida Besprechung erläutert).
Es gibt einen Opernstil, der sich sozialkritischen Themen mit gesteigertem Realismus, Leidenschaft und ungeschminkter Grausamkeit widmet = wirkliches Leben mit sozialen Problemen etc. (s. z. B. Pagliacci/Leoncavallo): Verismus.
Der Inszenator Calixto Bieito hat die Dramaturgie seiner Carmen (Carmen datiert nicht im Verismus), in ein solches Umfeld transformiert. Das könnte Spannung und heutigen Zeitgeist transportieren.
Die szenische Umsetzung dieser Transformation erfordert z. B. Handwerk der Personenregie, der Charakterentwicklung, adäquate Protagonisten für Bühnenpräsens und organisatorische Rahmen, in dem Fachleute diese Dinge berücksichtigen. Verismus erfordert besondere szenische Differenzierung.
Man kann natürlich nach Baukastensystem unreflektiert besetzen. Werden keine individuellen Notwendigkeiten berücksichtigt, entsteht szenischer Murks.
In z. B. der Opera Seria kann das (mit Abstrichen) gut gehen, sonst kaum.
Im vitalen Musiktheater mit täglicher Inszenierungskultur unterscheidet man bei Nachbesetzungen in bestehende Inszenierungen nach gesungenen und ungesungenen Protagonisten.
Gesungene haben die Partie durch vorherige andere Inszenierungen verinnerlicht, also den Charakter, Wesenszüge neben dem Gesang in einem individuellen Rollenprofil vital in den Köper trainiert, das ist kein kognitiver Prozess, sondern benötigt i. d. R. Zeit, Proben und Bewusstseinsentwicklung. So kann man sich in andere Inszenierungen integrieren, weil man die Partie nach erarbeitetem Rollenprofil schon gesungen hat.
Ungesungenen fehlt das, sind nur musikalisch studiert. Nach Talent kann Manches bewältigt werden. Man benötigt i. d. R. aber einige Wochen, um darstellerisch den Charakter einer dramatischen Hauptpartie/Bühnenfigur zu erarbeiten. Sonst bleibt ein Manko, das den Gesang beeinflussen kann.
TTT hat aus diesen Gründen auch mal einen Wenzel (Verkaufte Braut) nach Hause geschickt, dafür kam dann Helmut Pampuch.
Die „neue“ 22 Jahre alte Wiener Carmen, lässt Sorgfalt bei der Besetzung vermissen. Es gibt eine Reihe Ungesungener, auch Untalentierter am Haus mit Weltgeltung.
Bei notwenigen kurzfristigen Nachbesetzungen fehlte offensichtlich Sorgfalt. Es dürfte auch kaum in nötigem zeitlichem Rahmen sorgfältig von fähigen Personen einstudiert worden sein. Der Inszenator kam nur zu den Endproben und hat offensichtlich alles laufen lassen.
PIOTR BECZAŁA (Don José) hatte auch in der Matinee (https://www.youtube.com/watch?v=7-XYuXLQ_bw) darauf hingewiesen, dass er das Rollenprofil noch nicht füllt, eigentlich ungesungen ist. Er hatte lediglich 3 Aufführungen gesungen, ohne nachhaltiges Rollenstudium durch eine Inszenierung. Somit bleibt er unter seinen Möglichkeiten, wurde trotzdem kurzfristig nachbesetzt. Bei üblicher Terminierung dürften hier kaum mehr als die Endproben möglich gewesen sein.
ANITA RACHVELISHVILI (Carmen) betreibt sängerisches Bodybuilding, scheint musikalisch eigenwillige Wege zu gehen. TTT kann dem Vortrag gar nichts abgewinnen, außer müdem grienen. Das ist keine verinnerlichte Musiktheater-Kultur im 22. Jahrhundert, sondern martialisches Panzerknacker-Milieu. Über Geschmack lässt sich nicht streiten, daher soll sie den Geneigten genügen. Die „plus size/curvy“-Carmen ist szenisch unbegabt, macht musikalisch was …… auch immer!!? Regieführen bedeutet nicht schematisches Auferlegen von Festgelegtem, sondern individuelles Anpassen auf individuelle Möglichkeiten. Hier hätte man Frau Rachvelishvili helfen können. Zeugnis von Desinteresse sieht man im Stream in Großaufnahme. Nachdem sie im ersten Akt zu Boden gestoßen wird, fühlt sie sich wohl unbeobachtet und lungert gelangweilt mit offenen Augen auf dem Boden, bis zum nächsten szenischen Arrangement. So füllt und fühlt man keinen Charakter.
ERWIN SCHROTT (Escamillo) ist gut Gesungener und szenisch begabt, bleibt trotzdem blass. Das mag an seinem Unwillen mit den Gegebenheiten liegen, da ich ihn noch kürzlich glänzend erlebte. Diesmal ist auch sein Gesang unter seinen bekannten Möglichkeiten, es fehlt der Kern des testosterongesteuerten Bassbaritons. Er singt ordentlich aber die exponierten bekannten Qualitäten fehlen.
VERA-LOTTE BOECKER (Micaëla) beschädigt ihre Möglichkeiten. Die hübsche Frau ist szenisch durchaus talentiert, ließ sich leider wenige Tage vor der Premiere zum Einspringen als Ungesungene überreden. Da steht dann eine Allerwelts-Sängerin auf der Bühne ohne prägnante Charakterzeichnung, singt unter dem Niveau der Staatsoper und hat sich völlig peinlich geschminkt. Es sollte Micaela sein, kein Opernball-Besuch. Der Gesang zeichnet sich durch schöne Mittellage, gute Registerwechsel, angenehme Wege nach unten (soweit möglich) aus. Beim exponierten Weg nach oben bleibt leider, wie stereotyp so oft, die Geschmeidigkeit der Stimme auf der Strecke. Das dürfte an der alleinigen Nutzung der horizontalen nasalen Resonanzräume liegen (s. https://onlinemerker.com/geheimnisse-des-menschlichen-singens-versuch-einer-erklaerung-die-keilbeinhoehlen-und-ihre-moeglichen-auswirkungen/). Auch wenn es überstrapaziert klingt: Anna Netrebko beherrscht die Nutzung der vertikalen Resonanzräume gem. Link perfekt, alle Lagen bleiben samtig ummantelt geschmeidig. Das kann man auch lernen.
PETER KELLNER (Zuniga) spielt sich einen outrierten Wolf. Aus der überschaubaren Partie sollte man kein grundsätzliches Urteil ableiten. Gesanglich war das kein erstrangiges Niveau, szenisch sollte sich der junge Mann dringend Nachhilfe suchen, die dem verirrten Wilden eine differenzierte Bühnen-Persönlichkeit/das richtige Rollenprofil gibt.
Wie mit „heißer Nadel gestrickt“ bleibt die Szene also ohne verinnerlichte, affektive Charaktere wirkungslos, langweilt durch arrangiertes Ausführen von Regiepositionen nach Ansage eines unbegabten Assistenten. Warum hat der Meister nicht selbst gewirkt? Ist dies die WSTO nicht wert?
Es ist eine ausgenudelte Umsetzung von 1999 zu erleben, die auch keinen Zeitgeist mehr atmet, weil der in 22 Jahren überlebt bzw. durch unfertige Besetzung nicht erreichbar ist. Der behauptete Zeitgeist einer 22 Jahre alten Inszenierung ist 22 Jahre alt, kann nicht heutig, nicht gestrig auch nicht vorgestrig sein, sondern aus dem letzten Jahrhundert.
Wenn z. B. eine Telefonzelle auch keine bestimmende Zutat ist, so bleibt deren vorgebliche Zeitgeist-Dominanz beim Widererwecken nach 22 Jahren doch falsch, da es 2021 keine Telefonzellen mehr gibt. Es ist eine Marginalie -aber der Zeitgeist 2021 sieht anders aus – somit bleibt auch die behauptete Anpassung an neue Zeiten auf der Strecke.
Massive Eingriffe in Zeitschienen eines Musikdramas hin zu konkreten Tagesaktualitäten haben halt nur geringe Halbwertszeiten. Hier gehört der Deutungsrahmen in das Ende des letzten Jahrhunderts, also ins Museum der Moderne „Darstellender Musiktheater-Kunst“. Das kann sein, aber so Überlebtes für die nächsten 20 Jahre anzukündigen, überzeugt nicht. Werkimmanente surreale Inszenierungen sind zeitlos!
Zu meckern wäre noch über die dilettantische Maske, Schminkerei an der Wiener Staatsoper: ein Armutszeugnis! Da haben sich insbesondere nahezu alle Damen privat hübsch gemacht- entsetzlich, nicht nur Frau Boecker. In den Physiognomien fehlt jeglicher dramaturgische Impetus! Derivat für ausfallenden Opernball?
Tim Theo Tinn, 24. Febr. 2021
TTT‘s Musiktheaterverständnis ist subjektiv davon geprägt keine Reduktion auf heutige Konsens- Realitäten, Yellow-Press (Revolverpresse), Trash – Wirklichkeiten in Auflösung aller konkreten Umstände in Ort, Zeit und Handlung zuzulassen. Es geht um Parallelwelten, die einen neuen Blick auf unserer Welt werfen, um visionäre Utopien, die über der alltäglichen Wirklichkeit stehen – also surreal (sur la réalité) sind.
Profil: 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Inszenierung/Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem (Diskurs Natur/Kultur= Gegebenes/Gemachtes) für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden). TTT kann man engagieren.