WIEN / Staatsoper: CARMEN
24. Aufführung in dieser Inszenierung
29. Jänner 2024
Von Manfred A. Schmid
Schon eineinhalb Jahre nach der Premiere im Feber 2021 wurde Calixto Bieitos Inszenierung, in der er auf jedwede romantisch-exotische Verklärung des Umstände des dargestellten Eifersuchtsdramas verzichtet und schonungslos eine mit allen Mitteln ums Überleben kämpfenden Gruppe von Menschen am Rande der Gesellschaft auf die Bühne bringt, in einem respektablen Medium als „Klassiker“ bezeichnet. Bei der 24. Aufführung von Bizets Carmen, weitere eineinhalb Jahre danach, wird diese Einschätzung vollauf bestätigt. Das freut den Rezensenten, war er doch von Anfang an von Bieitos Herangehensweise angetan.
Dass ein Massenauftritt mit dem Staatsopern- und Kinderchor, verstärkt durch Statisten, zum Beginn des vierten Aktes, von Bieito als Volksfest in Vorfreude auf den Auftritt des Toreros in der Arena von Sevilla inszeniert, mit Szenenapplaus bedacht wird, ist nur ein schlagender Beweis dafür, wie sehr sich das Publikum von dem angesprochen fühlt, was auf der Bühne dargeboten wird. Die fatal endende Liebesgeschichte des Deserteurs José und der freiheitsliebenden Carmen findet in einem Umfeld statt, das von aus Langeweile aggressiven werdenden Soldaten und deren korrupten Offizieren, kriminellen Schmugglern, Prostituierten und Zuhältern, mit Goldketten auf der Brust, geprägt wird. Die Messer sind stets parat, um schmutzigen Geschäften Nachdruck zu verleihen. Und wer bei näherem Hinschauen den Verdacht hegt, dass da auch Kindesmissbrauch im Spiel sein könnte, liegt wohl nicht so falsch. Georges Bizets kühner Vorgriff auf den Verismo in der Oper, der erst rund 25 Jahre nach der Uraufführung einsetzen sollte, findet hier jedenfalls eine durchaus stimmige Umsetzung sowie eine gut durchdachte Zuspitzung.
Was sich drei Jahre nach der Premiere geändert hat, ist der Umstand, dass Bieitos Deutung und die gelungene Bühne von Alfons Flores zwar weiterhin die verbindlichen Parameter für jede Aufführung vorgeben, die Interaktionen zwischen den Hauptakteuren der Handlung sich allerdings von der ursprünglichen Gestaltung inzwischen immer deutlicher abheben. Damit haben sich die Akteure aus dem großen Schatten fortbewegt, den etwa die Premierenbesetzung der Carmen mit Anita Rachvelishvili in den ersten Reprisen hinterlassen hat. Jede Neubesetzung bringt neue Impulse mit und baut sie in die vorgegebenen Strukturen ein. So gibt es in der nun angelaufenen Aufführungsserie jede Menge von Überraschungen zu entdecken, die sich aber gut in Bieitos herb-bunte Gesellschaftsverhältnisse einfügen, was eine lebendige Repertoiretauglichkeit garantiert. Man könnte das freilich auch Emanzipation nennen.
Eve-Maud Hubeaux erweist sich als eine geradezu perfekte Besetzung für die Rolle der unangepassten, alle Konventionen missachtenden Frau, die lieber den Tod wählt, als von ihrem unbändigen Drang nach Freiheit anzurücken. Hubeauxs Carmen flirtet zunächst mit so gut wie jedermann und setzt dabei raffiniert ihre erotischen Reize ein, bedrängt die Kerle, indem sie sich an sie schmiegt und sie mit Hand und Beinen streichelt, hebt den Rock, lässt ihre Finger verführerisch durchs Haar gleiten, zieht die Männer an sich und stößt sie dann wieder weg. Vor allem aber singt sie betörend schön, wenn sie nicht gerade die Herren Offizier mit schnippischem Tral-la-la-la provoziert. Die berühmte Blume wirft sie, wie zufällig (?) hinter sich, sie fällt dem Sergeant Don José vor die Füße: eine neue Liebschaft nimmt ihren verhängnisvollen Anfang, bis zum bitteren Ende vor der Stierkampf-Arena. Eine Beurteilung wie im Vorjahr: „Eve-Maud Hubeaux ist eine durchaus gute Carmen, an die Premierenbesetzung Anita Rachvelishvili kommt aber auch sie – wie zuvor schon Elina Garanca – nicht heran,“ wäre diesmal nicht mehr zulässig, weil sich, wie oben erklärt, die Begründung, „Das mag aber auch damit zusammenhängen, dass diese Inszenierung Bietos ganz auf Rachvelishvili zugeschnitten ist und bleibt,“ geändert hat und nicht mehr zutrifft. Vielmehr ist nun Hubeaux diejenige, die Bieitos Inszenierung geschickt auf sich zuschneidert.
Auf international großen Bühnen hat Michael Fabiano schon als Don José auf aufmerksam gemacht und wird diese Rolle im April an der MET singen. Der kahlköpfige Amerikaner italienischer Abstammung verfügt über eine gute Mittellage. In der Höhe, wenn es laut wird, klingt sein leicht baritonal gefärbter lyrischer Tenor mit Spinto-Qualität allerdings oft recht scharf. Die „Blumenarie“ gelingt ihm bei seinem Wiener Rollendebüt aber gut. Darstellerisch ist er okay, aber keine Offenbarung. Was Carmen an diesem Don José gefunden haben soll, angesichts der großen Auswahl, die sich ihr aufdrängt, ist nicht leicht zu eruieren. Vielleicht war es doch, wie bereits kurz spekuliert, reiner Zufall, dass ihm die Blume wie ein Blitz, genauer: wie eine Kugel, getroffen hat.
Roberto Tagliavini als Escamillo ist eine formidable Erscheinung, sowohl darstellerisch wie auch stimmlich. Sein Torero ist ein Mann der es, aus einfachen Verhältnissen stammend, an die Spitze geschafft hat. Als Volksheld kehrt er gerne zu den Freunden von einst zurück, um sich von ihnen bewundern und feiern zu lassen. Dass Don José ihm gegenüber keine Chance hat, steht von Anfang an fest. Das Dilemma, dass es Baritonen für diese Rolle oft an der erforderlichen Tiefe mangelt , während Bässe mit den hohen Tönen Probleme haben, stellt sich bei Tagliavini nicht. Er bewältigt das hohe G in der Rangelei mit Don José im dritten Akt tadellos und zeigt sich dabei auch sportlich fit, wenn da auf Autodächer gesprungen und dort gekämpft wird. (Eine Anmerkung: In der Carmen-Aufführung, mit Fabiano an der MET wird wieder der in Wien nie ganz ernst genommene Ryan Speedo Green den Escamillo singen, der dafür von der Kritik schon überschwänglich gelobt wurde.)
Ensemblemitglied Slavka Zamecnikova ist eine gute Besetzung für die Micaela, die in dieser Inszenierung nicht so sehr als sich aufopfernde und naive junge Frau vom Lande in Erscheinung tritt und alle Sympathien auf sich zieht, sondern eher streng und etwas rechthaberisch daherkommt. So als ob sie ein Anrecht auf die Liebe Don Josés haben würde und gekommen sei, um dieses einzufordern. Ihre Arie im dritten Akt – „Je dis que rien ne m’épouvante” – hat man schon mit innigerer Hoffnung gesungen gehört.
Aus dem Ensemble kommt auch eine der spielfreudigen und auch gesanglich erfreulichen Besetzungen für die halbseidenen, frivolen Damen im Gefolge von Carmen. Ileana Tonca ist eine bewährte Frasquita, Alma Neuhaus aus dem Opernstudio feiert eine beachtliches Rollendebüt als Mercédès. Wie die zwei – und das gilt auch für die Carmen – auf Stöckelschuhen leichtfüßig auf Autos klettern und tanzen – ist mehr als bemerkenswert.
Erprobte Kräfte aus dem Haus kommen auch bei den Nebenrollen der Soldaten und der zwielichtigen Schmuggler zum Einsatz: Ilja Kazakhov und Stefan Asthakov als Zuniga und Morales, Carlos Osuna und Michael Arivony als Dancaire hinterlassen einen guten Eindruck.
Daniel Barenboim ist bei einer Carmen-Premiere in Berlin einmal mit dem gesamten Orchester zum Schlussapplaus auf der Bühne angetreten. Das hätte diesmal auch das Staatsopernorchester unter der Leitung von Alexander Soddy verdient. Voller Leidenschaft bei den spanischen Rhythmen und den mitreißenden Melodien, mit exzellenten Soli wie etwa vom Horn in der Blumenarie oder der Flöte in der Einleitung zum dritten Akt.
Die Oper Carmen ist musikalisch meistens ein Erlebnis, in der Inszenierung von Calixto BIeito wird sie zum packenden Ereignis, das nicht die Vergangenheit nostalgisch verklärt, sondern die brutale Gegenwart ungeschönt widerspiegelt. Überwältigender Beifall ist der angemessene Lohn für eine ehrliche, gediegene Arbeit.