WIEN / Staatsoper: CARMEN
20. Aufführung i dieser Inszenierung
19. April 2023
Von Manfred A. Schmid
Calixto Bietos nüchterne, schonungslos entromantisierende Inszenierung versetzt die Handlung in ein zwielichtig-schäbiges, von Brutalität und Gewaltausbrüchen geprägtes Milieu und gibt den Blick frei auf das Schicksal einer libertinären, jegliche gesellschaftliche Konventionen ablehnenden Frau, die alles, auch ihre Liebesbeziehungen, ihrem kompromisslosen Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung unterordnet und die bereit ist, dafür auch in den Tod zu gehen. Drei exzellente Neubesetzungen in der zwanzigsten Aufführung bestätigen erneut die Repertoiretauglichkeit dieser Produktion, die am 21. Feber 2021 ihre Premiere vor Publikum hatte, zuvor aber schon – coronabedingt – gestreamt zu erleben war.
David Butt Philip, der an der Staatsoper bereits bei seinem Hausdebüt als Laca in Jenufa auf sich aufmerksam machen konnte und im Dezember auch als Walther von Stolzing in der Meistersinger-Neuproduktion in bester Erinnerung ist, gehört mit Freddie De Tommao zu den jungen britischen Tenören, die dabei sind, sich international einen Namen zu machen. Sein Don José punktet mit jugendlicher Frische und einer guten Portion an Naivität. Gesanglich mit einem fein leuchtenden Timbre ausgestattet, weiß er in der Blumenarie mit emotionaler Würze und phänomenaler Phrasierungskunst zu überzeugen. Darstellerisch ist er vor allem in der finalen, auf die Katastrophe zusteuernden Begegnung mit Carmen sehr präsent. Gehetzt und getrieben wie ein waidwundes Tier irrt er herum, umkreist sie, nähert sich an und entfernt sich dann wieder, um Abstand zu gewinnen, bis er schließlich, wie von einem Magneten angezogen, demm Vollzug der unausweichlichen Tat nicht mehr entkommt.
Die aus der französischen Schweiz stammende Sängerin Eve-Maud Hubeaux, im Vorjahr gefeierte Einspringerin als Amneris bei den Salzburger Festspielen, ist an der Staatsoper bereits als Eboli in Erscheinung getreten. Ihr ausdruckstarker Mezzo und ihre darstellerischen Fähigkeiten sind gute Voraussetzungen für die Titelpartie in Bizets Meisterwerk, das neben Mozarts Zauberflöte zu den populärsten Opern der Welt gehört. Ihr Stimmumfang ist beeindruckend, nur ganz in der Tiefe gibt es noch Verbesserungsmöglichkeit, während die Spitzentöne stets perfekt gelingen. Ihre Carmen ist verführerisch und geizt nicht mit ihren Reizen. Dennoch aber lässt sie erahnen, dass sie mit Don José nicht bloß spielt, sondern sich auch von ihm auf irgendeine geheimnisvolle Weise angezogen fühlt. Ihre Auftrittsarie, die „Habanera“, klingt beachtlich, am überzeugendsten aber ist sie in den „Trallalala“- Passagen, in denen sie Spott und Verachtung bekundet oder sich – parodierend – über andere lustig macht. Eve-Maud Hubeaux ist eine durchaus gute Carmen, an die Premierenbesetzung Anita Rachvelishvili kommt aber auch sie – wie zuvor schon Elina Garanca – nicht heran. Das mag aber auch damit zusammenhängen, dass diese Inszenierung Bietos ganz auf Rachvelishvili zugeschnitten ist und bleibt.
Als Rollendebüt für Micaela wird diesmal eine Hausbesetzung aufgeboten. Anna Bondarenkos Auftritte sind von spürbarer Sorge und Liebe gegenüber Don José geprägt. Im dritten Akt bekommt Bondarenko auch Szenenapplaus. Eine makellose Leistung.
Erwin Schrott, der schon der Escamillo in der Premierenbesetzung, war, ist auch diesmal – erwartungsgemäß – eine Wucht. Stimmlich und darstellerisch bühnenfüllend und überaus präsent. Wie es sich für diese Inszenierung ziemt, ist sein Escamilllo kein eleganter Torero, sondern ein schmieriger, zwielichtiger Typ. Mehr Strizzi und Ganove als vorbildlicher Star. Gerade deshalb aber so populär bei seiner Anhängerschaft, die ihn als einen der ihren betrachtet, der es zu etwas gebracht hat und weiterhin zu ihnen gehört.
Die Nebenrollen sind mit bewährten Kräften aus dem Haus besetzt. Sie alle verdienen es, namentlich angeführt zu werden, was auch für den Chor und die Kinder der Opernschule gilt. Ileana Tonca (Frasquita), Isabel Signoret (Mercedes), Ilja Kazakov (Zuniga), Stefan Astakhov (Morales), Carlos Osuna (Remendado) und Michael Arivony (Dancaire). Alle vor den Vorhang!
Alexander Soddy am Pult des Staatsopernorchesters ist ein kundiger, verlässlicher und aufmerksamer musikalischer Leiter. Die Tempi stimmen, die Lautstärke auch. Bei Schlussbeifall wird Soddy eigens gewürdigt und hervorgehoben.
Das volle Haus zeigt sich begeistert und spart nicht mit Applaus.